Bayern 2

     

Nachtstudio Brauchen wir Verräter?

Dienstag, 05.05.2020
20:05 bis 21:00 Uhr

  • Als Podcast verfügbar

BAYERN 2

Sind Verräter ein Treibstoff der Demokratie?
Eine Verteidigung der Unperson
Von Michael Reitz
Als Podcast und in der Bayern 2 App verfügbar

Müssen wir den Verräter von seinem schlechten Ruf befreien? Müssen wir ihn verteidigen? Das deutsche Wort "Verrat" bedeutet laut Herkunftswörterbuch "einen Entschluss zu jemandes Verderben zu fassen." Bereits hier beginnen die Deutungsschwierigkeiten: Hat der Verratene sein Verderben vielleicht verdient, beispielsweise ein Diktator? Ist es nicht Ansichtssache, welcher Verrat ehrenhaft ist und welcher nicht, ja, was überhaupt als solcher zu gelten hat oder als Heldentat? Ed Snowden, der die Überwachungspraxis der US-Geheimdienste publik machte - ein Krimineller, ein Vaterlandsverräter? Oder der weithin vergessene Spion Richard Sorge, der den Sowjets 1941 kriegsentscheidende Informationen zukommen ließ?

Selbst an Judas, dem wohl bekanntesten Verräter, scheiden sich die Geister: Hätte es ohne seinen heimtückischen Kuss zur christlichen Heilsgeschichte kommen können? Der Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger behauptete, dass unter bestimmten historischen Bedingungen jeder zum Verräter werden muss. Entweder aus freien Stücken oder als Opfer in einem allgemein paranoiden Milieu wie etwa während des Kalten Krieges. In radikal voneinander verschiedenen Systemen ist vom Verräter die Rede, sowohl in Diktaturen als auch in Demokratien ist er eine (Un-)Person, ohne die - die Vermutung drängt sich auf - kein politisches System existieren könnte.