Bayern 2-Radio Revue: Goodbye Mittelschichtsmärchen! Die Wiederentdeckung der Klasse

Goodbye Mittelschichtsmärchen!
Die Wiederentdeckung der Klasse
Von Hardy Funk

Wiederholung um 18.05 Uhr

Deutschland - ein Land, in dem alle zusammen in die Hände spucken und gemeinsam das Bruttosozialprodukt steigern, eine klassenlose Gesellschaft, in der in guten wie in schlechten Zeiten alle im gleichen Boot sitzen. Doch, wenn es überhaupt jemals eine Zeit ohne Klassen und Klassengegensätze gegeben hat in diesem Land, ist sie lang vorbei. Ein Symptom: Durfte man das Wort "Klasse" lange Zeit kaum benutzen ohne als linksradikal abgestempelt zu werden, begegnet uns die "Klasse" nun allerorten: Anke Stelling bekommt 2019 den Deutschen Buchpreis für ihre gehobene-Mittelklasse-Sezierung "Schäfchen im Trockenen", Christian Baron landet 2020 mit der Schilderung seiner Arbeiterklasse-Kindheit in "Ein Mann seiner Klasse" einen Bestseller, Julia Friedrichs legt dieses Jahr mit "Working Class" eine vielbeachtete Reportage vor. Unter dem Schlagwort "Klassismus" wird - nicht ohne Widerspruch - versucht, Diskriminierungen und subtile Ausschlüsse aufgrund der Klassenzugehörigkeit analog zu anderen Diskriminierungsformen sichtbar zu machen.

Fakt ist, die Ungleichheit wächst seit Jahrzehnten. Armen (und mitnichten "sozial schwachen") Menschen gelingt es kaum, Rücklagen zu bilden oder fürs Alter vorzusorgen. Aber auch Alleinverdiener in Großstädten müssen heute Angst haben, schon morgen nicht mehr zum Mittelstand zu zählen. Je ärmer die Menschen, desto früher sterben sie. Je ärmer die Eltern, umso perspektivloser die Lage der Kinder. Und auch das ist nicht zu leugnen: Das gerade von Linken gern herbeiersehnte Klassenbewusstsein der Abgehängten sucht man vergebens, viel eher trifft man auf Apathie oder rechtes Gedankengut, das marginalisierte Gruppen für die eigene Lage verantwortlich macht. Trotz alldem herrscht nicht etwa Solidarität, sondern Verachtung vor.