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Jude im Warschauer Ghetto beim Schneeräumen | Bild: picture-alliance/dpa

Sonntag, 20.01.2013
21:03 bis 22:00 Uhr

BAYERN 2

Der Richter und die Opfer
Das mühsame Ringen um die Ghettorenten
Von Julia Smilga
BR/WDR 2012
Wiederholung vom Samstag, 13.05 Uhr

Reichen fünf Kartoffeln oder ein Teller Suppe am Tag aus, um einen Anspruch auf Rente zu haben? Konnten sich Juden im Ghetto ihre Arbeit frei aussuchen? An wen wurden Rentenbeiträge für sie bezahlt? Diese makabren Fragen beschäftigten jahrelang deutsche Rentenversicherungen und Gerichte. Jahrelang haben 70 000 Überlebende des Holocaust um ihre Rente gekämpft. Die meisten vergeblich: 90% der Anträge wurden abgelehnt. Mit der Begründung, Rente gebe es nur für freiwillige Arbeit und angemessene Bezahlung. Die Wende kam erst, als ein Richter am Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen, Jan-Robert von Renesse, daran ging, Historiker in aller Welt als Gutachter einzusetzen und hochbetagte Antragsteller in Israel persönlich über die Umstände ihrer Arbeit im Ghetto zu befragen. Er wies nach, dass es im Ghetto tatsächlich in gewissem Maß freie Entscheidungen und entlohnte Arbeit gab. 2009 wurde die deutsche Rechtsprechung geändert und der Zugang zu den Ghettorenten erleichtert. Inzwischen waren schon viele der Opfer gestorben. Zehntausenden Überlebenden aber hat der Richter zu ihrem Recht verholfen. Verloren hat er selbst. Nach seinem größten beruflichen Erfolg ist Richter von Renesse ins berufliche Aus katapultiert worden. Im April 2010 wurde er von allen Ghettofällen abgezogen, statt dessen hat er Behindertenausweise zu prüfen. Jetzt erhebt Richter Renesse schwere Vorwürfe gegen seine Kollegen, von denen er sich gemobbt fühlt. Und er klagt gegen seinen Arbeitgeber, wehrt sich gegen Eingriffe in die richterliche Unabhängigkeit. Die Justiz tut sich schwer mit einem Juristen, der seine richterliche Verantwortung ernst nimmt – und mit der Aufarbeitung auch des womöglich letzten Kapitels der Nazi-Geschichte.
Die Sendung von Julia Smilga bekam kürzlich beim renommierten Prix Europa speziell als "investigatives Feature" eine lobende Empfehlung.