Bayern 2

     

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Freie Stadt? Nürnberg und sein Selbstverständnis

Nürnberg war lange Zeit freie Reichsstadt. Bis 1806 die Bayern kamen und von einem Tag auf den anderen alles anders war. Das nagt bis heute an der fränkischen Seele. Anja Scheifinger hat sich auf die Suche gemacht nach dem Selbstverständnis der Nürnberger heute.

Von: Anja Scheifinger

Stand: 02.08.2022 | Archiv

Woher kommst Du? Eigentlich eine Frage, die einfach zu beantworten ist, denn ich bin in Nürnberg geboren, habe in Erlangen studiert, dazwischen auch mal in Chicago, Florenz und Ferrara gelebt, aber jetzt bin ich – seit 25 Jahren - wieder in Nürnberg, Also: ich komme aus Nürnberg. Is ja klar. Aber: Auf Reisen außerhalb Europas bekomme ich nach dieser Antwort manchmal fragende Blicke. Nürnberg? Wo ist das?

Autorin Anja Scheifinger

Dann überlege ich für den Bruchteil einer Sekunde und sage: Bayern. Es gibt mir einen winzigen, vernachlässigbaren Stich in die Brust. Bavaria. Eigentlich will ich Franken sagen, aber das ist dann doch zu kompliziert. Interessierte Gesprächspartner sind jetzt immer noch nicht zufrieden und setzen nach: ah, Munich. Der Stich in der Brust wird schmerzhafter. Ja, so ungefähr, stottere ich, und ja: Oktoberfest, jaja. Dabei hat das Oktoberfest mit mir und meiner Herkunft nun wirklich gar nichts zu tun.

Die Antwort auf die Frage nach unserer Identität: nicht ganz einfach

Manchmal versuche ich beherzt, Franken zu erklären. Ja, schon Bavaria, aber eigentlich Franconia, you know? Die Blicke werden dann verdutzter. Ich sehe ein: das ist dann doch zu viel klein klein in unserer globalisierten Welt und außerdem: wen interessiert das außerhalb Bayerns? Sie ist also nicht ganz einfach, die Antwort auf die Frage nach unserer Identität. Ich möchte daher mit vielen Nürnbergerinnen und Nürnbergern versuchen, sie zu beantworten. Wir sind Franken, aber seit 1806 eben auch Bayern, auch wenn das bis heute nicht allen gefällt. Denn schließlich waren wir mal wer – und vielleicht auch mehr, im Mittelalter, als sich Nürnberg noch als Nabel der Welt – naja, zumindest als ein Mittelpunkt in Europa fühlen konnte. Unterwegs mit der Historikerin Magdalena Prechsl vom Verein Geschichte für Alle.

"Ich freue mich, Sie begrüßen zu dürfen. Zu unserer kleinen Runde durch die Nürnberger Altstadt, wo wir uns ein bisschen auf Spurensuche zum Thema 1806 machen, also das Ende Nürnbergs als Reichsstadt, der Übergang an Bayern. Und ich würde vorschlagen, dass wir jetzt als Erstes zum Historischen Rathaus gehen."

Magdalena Prechsl, Verein Geschichte für Alle

Der historische Rathaussaal steht symbolisch für die Nürnberger Blütezeit, in ihm sind die Patrizier ein und ausgegangen.

"Das war natürlich das Zentrum der Macht in der Reichsstadt Nürnberg. Die Blütezeit war im sechzehnten Jahrhundert, also 1806 schon relativ lang vorbei. Die Stadt war hoch verschuldet, man war im Grunde eingezwickt zwischen Bayern und Preußen. Also die Situation war auch außenpolitisch nicht ganz einfach. Und im Grunde war es 1806 dann so, dass Nürnberg doch schon gar nicht mehr so viel Reichsstadt war, wie man sich selbst vielleicht noch wahrgenommen hat. Es ist durchaus so, dass nicht alles schlecht war für Nürnberg. Bei diesem Übergang an Bayern."

Magdalena Prechsl, Verein Geschichte für Alle

Was, die Blütezeit vorbei? Aber deswegen gleich von Napoleon zu Bayern zugeschlagen zu werden, das geht dann doch ein bisschen zu weit. Wo es die Stadt doch Jahrhundertelang gewohnt war, eigenständig zu sein, ihr eigenes Süppchen zu kochen. Vielleicht ist das ja so bis heute?

Nürnberger rechnen immer mit dem Schlimmsten

Ulrich Maly war 18 Jahre lang das Oberhaupt der Stadt. Am Sellerie macht er eine Nürnberger Eigenart fest.

"Du kommst als Nürnberger Hausfrau ins Gemüsegeschäft und sagst: 'An Sellerie habder wohl ned?' Also wir rechnen immer mit dem Schlimmsten, nämlich dass heute wieder kein Sellerie da ist, wo man besonders dringend einen braucht. Und vielleicht ist es so ein bissel die fränkische Weltsicht, die sich dann, wenn man das jetzt aus dem folkloristischen nimmt, natürlich auch industriesoziologisch, vielleicht sogar religionssoziologisch mit der protestantisch geprägten Stadt ein Stück weit auch erklären lässt."

Ulrich Maly, ehemaliger Oberbürgermeister Nürnbergs

Pomp und der schöne Schein haben im Protestantismus nämlich keinen Platz. Und Nürnberg war die erste Reichstadt, die sich zu Luthers Ideen bekannte und diese als "Hauptstadt des Buchdrucks" auch vervielfältigte. Luther nannte Nürnberg das "Auge und Ohr Deutschlands". Und diese protestantische Zurückhaltung hinterlässt bis heute ihre kulturellen Spuren und macht sich auch im Stadtbild bemerkbar.

Der Nürnberger trägt den Pelz nach innen

"Die Nürnberger Kaufleute waren ja seit dem späten Mittelalter unglaublich reich und die arme Phase um die Bajuwarisierung war relativ kurz, später kam der Reichtum der Industrie dazu. Das war nie geprägt von sichtbaren großen Stiftungen und Förderungen, wie man es in Fürstenstädten kennt, wo riesige Alleen, große Park-Wasserspeie gebaut wurden, weil der fränkische Kaufmann seinen Reichtum als guter Protestant nicht raushängen ließ. Man trägt, wie es so schön hieß, den Pelz nach innen, mit den Haaren nach innen, damit keiner sieht, wie gut es einem geht. Das prägt die Stadt, die Figur, mit dichter Bebauung und wenig Grünflächen bis heute."

Ulrich Maly, ehemaliger Oberbürgermeister Nürnbergs

Den Pelz nach innen tragen – wenn es einen gibt. Das prägt nicht nur die Stadt, sondern auch die, die in ihr wohnen. Bis heute – ihr einstiger Oberbürgermeister Ulrich Maly ist da keine Ausnahme.

"Ich habe nicht dieses Operettenhafte, ich suche nicht die erste Reihe oder den Platz auf der Bühne. Dieses Operettenhafte, das vielleicht die Altbayern eher auszeichnet als uns, fehlt den meisten von uns sehr, sage ich jetzt mit Blick auf meine Ministerpräsidenten."

Ulrich Maly, ehemaliger Oberbürgermeister Nürnbergs

Da ist er schon, der erste Vergleich Franken – Altbayern, der in Nürnberg immer in der Luft liegt. Bassd scho statt mia san mia, 3 im Weggla statt Weißwörscht, a Seidla Bier statt a Maß, Ade statt Pfiatseich, rotweiß statt weißblau.

1806 – ein Trauma für die Nürnbergerinnen und Nürnberger?

Ob die Menschen wohl traumatisiert wurden, als Nürnberg 1806 seinen Status als freie Reichsstadt hergeben musste und mir nichts, dir nichts, nicht nur seine Selbstständigkeit verloren hat, sondern ausgerechnet bayerisch wurde?

"Also damals hat sie es bestimmt gegeben, und es hat sich sehr sicher über Jahrzehnte erhalten. Aber ich könnte mir vorstellen, wenn wir heute 50 Menschen auf der Straße fragen, ob die wegen 1806 a Trauma haben, dann fragen die: Was war bitte 1806? Und wenn ich nicht weiß, was war, kann ich auch kein Trauma haben."

Klaus Schamberger, Humorist

Nürnberg wird oft für kleiner gehalten als es ist

Am Boden bleiben ohne Operette und Gedöns – das beeinflusst auch die Wahrnehmung der Stadt nach außen.

"Wir wissen aus Untersuchungen, dass die Menschen im Durchschnitt glauben, dass Nürnberg kleiner ist, als es tatsächlich ist. Und da kommen dann immer so 300.000 Einwohner raus. Da haben uns aber die Werbefachleute beruhigt, die haben nämlich gesagt, große Städte haben in der Regel immer negative Assoziationen. Sie sind zu teuer. Sie fressen einen auf und Ähnliches mehr. Und wenn die Menschheit euch für kleiner hält, dann ist es eher sympathisch – sagen die Fachleute. Finden wir Nürnberger auch."

Ulrich Maly, ehemaliger Oberbürgermeister Nürnbergs

Typisch: der Dialekt

Eine Stadt für den zweiten, den genaueren Blick. Und unweigerlich landet der Mensch bei der Frage nach Identität und Abgrenzung bei der Sprache – der Dialekt fällt auch vielen Nürnbergerinnen und Nürnbergern als erstes ein, wenn es um ein Nürnberger Charakteristikum geht.

"Ein typisches Wort für Nürnberg? Der Stadtgogerer, ich weiß auch gar nicht mal, ob das die Jüngeren verstehen. Man flaniert ein wenig durch die Stadt. Und auf typisch Nürnbergerisch ist es dann halt gogern. Und einer, der das häufig macht, ist der Stadtgogerer."

Annette Röckl, Journalistin

Anette Röckl hat bei den Nürnberger Nachrichten eine Kolumne mit dem Namen: Hallo Nürnberg! Dort sammelt sie auch gerne Wörter, wie eben den Stadtgogerer – sie ist Einheimische von Geburt an, was an ihr ist typisch Nürnberg? "Tatsächlich mein Dialekt", sagt sie. Den konnte sie noch nie verhehlen.

An der Sprache manifestiert es sich vielleicht heute am deutlichsten, dass das fränkische und bayerische nur bedingt zusammenpassen. "Bassd scho" passt vielleicht nicht immer auf das bayerisch-fränkische Verhältnis, aber fast immer auf unsere fränkische Mentalität – diese zwei Wörter sind für mich der Ausdruck, der uns am deutlichsten auszeichnet.

"Frei statt Bayern"

Dass Bayern und Franken nicht zusammenpassen, das meint auch der 1990 gegründete Verein Fränkischer Bund. Der Vorsitzende Otto Weger kämpft dafür, dass Franken nicht untergeht im als zentralistisch empfundenen Altbayern.

"Wirtschaftlich wird Oberbayern, wird die Münchner Region immer bevorzugt. Während Franken oft vernachlässigt wird, aber auch kulturell, dass also die Oberbayern, die Münchner das Sagen haben und die Franken doch immer irgendwo erst in der zweiten Reihe stehen. Das war damals so, und das hat sich bis heute nicht geändert."

Otto Weger, Verein Fränkischer Bund

Und weil es nach Meinung von Otto Weger seit Napoleon und der Einverleibung Frankens durch Bayern mit der Gleichberechtigung Frankens an vielen Ecken und Enden hapert, und Gedanken schließlich frei sind – wie wäre es, wenn Franken gleich ein eigenes Bundesland wäre?

"Ja, das wäre ein schöner Traum. Ein Bundesland Franken hätte etwa fünfeinhalb Millionen Einwohner, wohingegen Bayern oder auch Nordrhein-Westfalen eigentlich zu groß sind. Einfach ein 17. Bundesland gründen wäre wohl zurzeit nicht durchsetzbar."

Otto Weger, Verein Fränkischer Bund

Der Fränkische Bund nimmt ernst, was viele inzwischen als humorvolle und harmlose Kabbelei ansehen. "Frei statt Bayern" war noch in den 1980er Jahren des Öfteren auf Beton gesprüht zu lesen.

"Franken liegt doch in Bayern?!?"

Von meinen Begegnungen mit Nürnbergerinnen und Nürnbergern auf der Burg ist mir eine besonders im Gedächtnis geblieben. Ich frage einen Jungen: Fühlst Du dich eher als Franke oder Bayer? Er schaut mich verständnislos an. "Häh, aber Franken liegt doch in Bayern?!" Vielleicht ist Nürnberg einfach Nürnberg – schon das Stadtbild mit den Fachwerkhäusern und dem Ungetüm der Kongresshalle erzählt eine lange Geschichte. Die jahrhundertelange Blütezeit im Mittelalter, das Hadern damit, nicht mehr frei zu sein, die wichtige Rolle während der Industrialisierung mit der ersten Eisenbahn Deutschlands, die dunkelbraunen Seiten während des Nazi-Regimes und die jetzige Stadt der Menschenrechte – ein buntes Mosaik eines langen, beinahe 1.000-jährigen Lebens.

"Für mich ist Nürnberg, will man es übertragen auf die Welt der Schönheit von Models, kein junges, perfektes Model, sondern eher das Gesicht einer in Würde gealterten Staatsschauspielerin, der man Narben und Falten ansieht, der man ein langes Leben, also diese knapp tausend Jahre ansieht. Und wo man auch sehen kann, dass nicht immer alles toll gewesen ist. Das ist ja auch tatsächlich die Wahrheit, die geschichtliche Wahrheit."

Ulrich Maly, ehemaliger Oberbürgermeister Nürnbergs

Diese Sendung ist eine Wiederholung vom 13.11.2021.


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