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Ergreifend und berührend Kim Thúys Roman "Großer Bruder, kleine Schwester"

Im April 1975 begann in Saigon die große Flüchtlingswelle, nachdem die USA im Vietnam-Krieg das Land mit Bombardements und dem Entlaubungsmittel "Agent Orange" verwüstet hatten und sich - wie jetzt aus Afghanistan völlig unorganisiert - als Verlierer zurückzogen, und die Kommunisten aus dem Norden einmarschierten. Inspririert von einem Foto der "Operation Babylift", bei der 1975 vietnamesische Kinder ohne Eltern ins Ausland geflogen wurden, erzählt Kim Thúy in atmosphärischen Bildern von deren Schicksalen, deren Traumata und deren Suche nach Identität in einem fremden Land.

Von: Cornelia Zetzsche, Eva Demmelhuber

Stand: 23.11.2021

Operation Babylift | Bild: picture alliance/AP Images/Peter O'Loughlin

Wie Millionen andere vietnamesische Familien floh die zehnjährige Kim Thúy mit ihren Eltern und zwei Brüdern 1978 vor den Kommunisten aus Saigon. Als Boat-People schaffte es die Familie nach Malaysia, wo sie in einem Camp der UN aufgenommen wurde. Wie durch ein Wunder kam sie von diesem Flüchtlingslager nach Kanada. In einer kleinen Stadt in den Eastern Townships von Quebec fanden die Thúys eine neue Heimat. Leicht war es nicht in diesem komplett anderen Kulturkreis mit der fremden Sprache. Später studierte Kim Thúy an der Universität in Montreal Linguistik und erwarb 1993 einen Abschluss in Jura. Sie arbeitete nicht nur als Anwältin, sondern auch als Näherin, Kassiererin, Köchin und Dolmetscherin. Fünf Jahre lang besaß sie ein Restaurant in Montreal und machte die Stadt mit der Küche ihres Heimatlandes bekannt. Dann begann Thúy, ihren Kindheitstraum zu verwirklichen und ihren ersten Roman zu schreiben.

Thúys erster Roman "Ru" erzählt die Geschichte der langen Reise ihrer Familie von Vietnam nach Quebec und der Entdeckung ihres neuen kulturellen Umfelds. "Ru" bedeutet im Französischen "kleiner Bach" und im Vietnamesischen "Wiege" und "schaukeln". Dieser Roman erhielt mehrere renommierte Preise und wurde in mehr als 15 Sprachen übersetzt, 2010 auch ins Deutsche mit dem Titel "Der Klang der Fremde".

"Großer Bruder, kleine Schwester"

In der Übersetzung von Brigitte Große erschienen im Kunstmann Verlag

"Am Tag nach Pamelas Abreise wurde ein Baby ausgesetzt, während Louis unter der Parkbank schlief. Er sah es, als er von einer seiner Mütter bei Tagesanbruch mit horn­hautbewehrten Fußsohlen wach getreten wurde, um Kaffee auszuliefern. Zurück von seiner Morgentour, stellte er fest, dass es noch immer dort lag. Er klaute eine leere In­stantnudelschachtel, um das winzige Wesen mit den hellen Haaren und den geschlossenen Augen hineinzulegen. Später fütterte Louis die Kleine selbst mit Suppenresten und Kondensmilch aus der Dose, die er vom Markt holte, wofür er sich zwischen Autos und Mopeds durchschlängeln musste. Louis trug sein Baby in einem Tuch auf dem Rücken, so wie die anderen Kinder der flüchtigen Familie ihre kleinen Geschwister. Nachts klappte er die Schachtel oben zu, um em Hồng vor gefräßigen Ratten mit Appetit auf win­zige Zehen zu schützen. Den Namen Hồng hatte sie von ihm, weil sie in all dem Staub immer zartrosa Wangen hatte, und darauf war Louis ziemlich stolz."

Kim Thúy: Ich sah dieses Foto vor vielleicht 15 Jahren. Die zwei Waisenkinder auf dem Gehweg: Das eine halbnackt, zusammengerollt in einer Pappschachtel, der Junge, der die Schachtel umschlingt. Ihre Hände berühren sich an der Seite der Schachtel. Und zugleich sieht man da die größte Liebe bei diesem Baby. Obwohl das Mädchen so klein war, hatte sie immer noch diesen Reflex, die Seite der Schachtel zu halten, um dem Jungen näher zu kommen. Und da sagte ich, für diese Liebe muß ich eine Hommage schreiben.

Kim Thùy, die als Zehnjährige in einem Fischerboot mit ihrer Familie aus Vietnam floh, sieht sich in Kanada als neugeboren. Die 60 000 Vietnamesen, die dort 1975 Zuflucht fanden, sind integriert, haben Karriere gemacht, wie Em Hong alias Emma Jade, wie Kim Thúy selbst, die als eine der erfolgreichsten Autorinnen des Landes gilt. Mit ihrem neuen Buch setzt sie ein Zeichen der Menschlichkeit gegen die menschliche Grausamkeit.

Kim Thúy im Gespräch mit Cornelia Zetzsche

Kim Thúy: Das Gehirn hat sich so umprogrammiert, dass man diese Angst nicht mehr spürt, sonst stirbt man. Und nicht nur das, der Körper auf dem Boot, sogar auf einer bequemen Couch jetzt, schmerzt nach vier Tagen in der immer gleichen Position. Aber weil das Gehirn den Rest Ihres Körpers fast lähmt, fühlt man keinen Schmerz mehr, keine Beschwerden. Man fühlt nichts, so dass man weitermachen kann. Auch die Nase ist so umprogrammiert, dass man Urin und Erbrochenes nicht riecht und weitermacht. Der Körper ist unglaublich, wissen Sie. Man war einfach da und hoffte, irgendwann vom Boot zu kommen.

Cornelia Zetzsche: Und das nächste Wunder war, am Ende bis nach Canada zu gelangen.

Kim Thúy: Oh, das war ein riesengroßes Wunder, nicht mal eine Lotterie, ein Wunder. Die Regierung schickte uns nach Quebec, wir sprachen Französisch. Eine kleine Stadt namens Granby hatte ein Freiwilligen-Programm und war bereit, einen Bus mit Vietnamesen aufzunehmen, den ersten großen Bus mit Migranten. Wir kamen dort an, und sie begrüßten uns so, dass ich wirklich neu geboren wurde, auf dem Parkplatz des Hotels, wo sie uns erwarteten. Als Vietnamesin war ich nicht gewöhnt, umarmt zu werden. Aber sie machten das und zögerten nicht eine Sekunde, obwohl wir schmutzig waren. Wir hatten am ganzen Körper Entzündungen, von den Insektenstichen und all dem, wir hatten ja keinen Zugang zu Wasser. Wir hatten Läuse im Haar, chronischen Durchfall, und ich bin mir nicht mal sicher, ob ich heute, mit 52, mich selbst mit 10 Jahren umarmt hätte. Ich glaube nicht, dass ich so großzügig wäre wie diese Kanadier. Mein größter Schock war, dass sie uns ansahen wie Schätze, die vom Himmel fielen. Das erste Mal, daß ich mich selbst sah, war nicht in einem Spiegel, sondern in ihren Augen, und ich hatte mich noch nie so schön gesehen wie in diesem Moment.

Cornelia Zetzsche: Louis ist nach einem Song von Louis Armstrong benannt, der aus einer Bar erklang, als das Findelkind auf der Straße gefunden wurde. Louis ist ganz besonders, meine Lieblingsfigur. Welche Beziehung haben Sie zu Ihren Figuren?

"Operation Babylift". 1975 ließ der US-Präsident Gerald Ford, nachdem die USA zuerst das Land zerstört hatten, Tausende Waisenkinder ausfliegen.

Kim Thúy: Ich glaube, da stimme ich Ihnen zu. Für mich ist er die Hauptfigur, oder nein, beide. Im Geiste mußte ich ja abklären, wo beide herkommen, Waisenkinder kommen ja auch von irgendwoher. Also musste ich ihren Stammbaum erstellen. Und so begann ich, über Indochina zu sprechen und über den Amerikanischen Krieg. Ich hörte die Geschichte eines Babys, eines kleinen Mädchens, das die "Operation Babylift" überlebt hatte und nicht sehr asiatisch aussah. Als sie adoptiert wurde, wollten die Eltern nicht, dass sie wußte, dass sie Vietnamesin ist, um sie vor Diskriminierung zu schützen. So erfuhr sie erst sehr spät, dass sie vietnamesischer Herkunft war. Ich sagte mir, vielleicht ist sie zweifach gemischt, durch einen GI aus den USA als Vater, und vielleicht durch einen französischen Großvater. So kam die Geschichte zustande.

Cornelia Zetzsche: Und das ist alles Imagination oder Tatsache?

Kim Thúy: Das sind alles Fakten. Ich füge sie nur zusammen. Wie Perlen verschiedener Farben zu einer Kette.

Cornelia Zetzsche: Es gibt viele Charaktere in diesem Buch, das vom Überleben im Vietnamkrieg handelt, ein Krieg, den die Vietnamesen amerikanischen Krieg nennen. Sind Sie allein durch dieses Foto auf die Idee gekommen? Wie kamen Sie dazu, dieses Buch jetzt, nach all den Jahren zu schreiben?

Verletzte Kinder im Vietnam-Krieg. Über 5 Millionen Vietnamesen wurden getötet

Kim Thúy: Weil es jetzt so viele Dokumente gibt, die nach 50 Jahren öffentlich und zugänglich werden. Sie wurden mindestens 50 Jahre lang archiviert. Nun hören wir mehr und mehr davon, denn der Vietnamkrieg endete 1975. Natürlich gab es schon vorher Unterlagen. Und das erste, was mich schockte, war ein Tonband von Nixon. Präsident Nixon zeichnete alles in seinem Büro auf, und es gibt einen Moment, da hören wir, wie er den US-General in Vietnam anrief und ihn aufforderte zu bombardieren. Und der General sagte, es sei nicht der richtige Zeitpunkt, es sei zu neblig, es würde Zivilisten treffen, er könne nicht präzise sein. Und Nixons Antwort war:  "Bombardieren". Er brauchte News, um von der Watergate-Affäre abzulenken.

Cornelia Zetzsche: Deshalb schreiben Sie zu Beginn, dass die Fantasie, die Vorstellungskraft nicht ausreiche, um die Realität zu erfassen. Wie gelang es Ihnen, dem, was wir Wahrheit nennen, näher zu kommen?

Kim Thúy: Es ist sehr schwer, der Wahrheit nahezukommen, weil sie sehr schwer zu ertragen ist. Wenn man sie einmal kennt, kann man die Wahrheit nicht ignorieren, sie bleibt haften. Ich habe nächtelang geweint. Um der Wahrheit ins Auge zu sehen, verwenden wir all die großen Emotionen: Wir gehen nach Vietnam, um für die Demokratie zu kämpfen! Aber die Demokratie wurde instrumentalisiert, um in den Vietnamkrieg zu ziehen. Und in Vietnam hieß es: Wir kämpfen für die Unabhängigkeit des Landes, für die Liebe zum Land! Ja, aber man schickte 14- und 15-jährige Jungs zum Sterben auf ein Schlachtfeld.

Cornelia Zetzsche: Und das nicht nur vor 50 Jahren, auch später. Im Irak zum Beispiel.

Als die Amerikaner 1975 als Verlierer aus Vietnam abziehen, gab es die gleichen tragischen Ereignisse wie jüngst in Afghanistan.

Kim Thúy: In Afghanistan, im Irak, in Myanmar. Wir machen immer die gleichen Fehler, leider mutiert der Mensch sehr langsam. Wir haben das in uns, diese Grausamkeit, diesen Hunger nach Dominanz. Wir denken immer, dass es in einem Krieg Gewinner und Verlierer gibt. Aber es gibt keine Gewinner, denn auch die Gewinner müssen mit dem leben, was sie getan haben, und das Trauma, das sie mit sich herumtragen, getötet zu haben, ist, glaube ich, genauso schwer wie das derjenigen, die getötet wurden. Auch wenn einer überlebte und einer starb.

Cornelia Zetzsche: Viele vietnamesische Exilanten waren sehr erfolgreich, wie Ihre Familie. trotzdem hat eine Figur wie Tam in Ihrem Roman Heimweh. Als sie ihr Ende vor Augen sieht, möchte sie Pho essen, die vietnamesische Suppe, mit Huhn, Schwein, Rind, Zimt, Muskat …

Kim Thúy: ... und das Wichtigste beim Servieren sind die Bohnensprossen, damit es frisch bleibt. Man braucht Limettensaft und Thai-Basilikum, vietnamesischen Koriander und grüne Zwiebeln, sehr dünn geschnitten. Das ist himmlisch! Heimat! Auch wer noch nie in Vietnam war, wird sich zu Hause fühlen, dem wird warm ums Herz, weil es so viel Aufwand ist, sie zu kochen. Sie essen die Zeit, essen die Aufmerksamkeit, die der Koch in den Topf gesteckt hat. Und es spielt keine Rolle, ob Sie Vietnamese sind oder nicht, Sie werden sich zu Hause fühlen.

Lesung mit Laura Maire am Sonntag, 28. November, um 12.30 Uhr auf Bayern 2. Mit freundlicher Genehmigung des Antje Kunstmann Verlags können wir die Sendung als kostenlosen Podcast anbieten.
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