Bayern 2


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Kassandra Wedel, gehörlos "Ich sehe die Corona-Krise als Chance"

Gerade jetzt wollen wir wissen, was los ist, verfolgen Pressekonferenzen und hören Nachrichten zum Coronavirus. Doch für rund 83.000 gehörlose Menschen in Deutschland ist es eine Herausforderung, überhaupt an Informationen zu kommen. Eine Petition will das ändern. Ein Schritt in die richtige Richtung, findet Kassandra Wedel. Die gehörlose Künstlerin sieht die Coronakrise als Chance.

Von: Constanze Kainz

Stand: 23.03.2020

Kassandra Wedel im Porträt. | Bild: Nicolas Priso

Bayern 2: Gerade jetzt ist der Zugang zu Informationen und ärztlicher Versorgung überlebenswichtig. Wie gut fühlst du dich als gehörlose Person zum Coronavirus informiert?

Kassandra Wedel: Ich denke, ich bin ausreichend informiert. Aber ich will mir ehrlich gesagt auch nicht ständig alles darüber reinziehen. Sonst hat man nur noch Corona im Gemüt und in Angst und Panik zu verfallen finde ich nicht hilfreich. Eine positive Einstellung schützt und unterstützt die Menschen mehr, die gerade wirklich Hilfe brauchen.

Wie informierst du dich aktuell und hast du Tipps, wo andere Gehörlose in der aktuellen Situation gut an Informationen kommen?

Ich lese oder schaue, wo es Informationen mit Untertiteln und in Gebärdensprache gibt.
Aber nicht alle Gehörlosen können so problemlos lesen und schreiben.
Das Robert-Koch-Institut und die Regierung bieten seit den Beschwerden und dem Start einer Online-Petition Videos mit Einblendung von Gebärdensprachdolmetschern an. Es gibt ein paar Beiträge in der Deaf-Community, also unter den Gehörlosen, zu dem Thema und beim WDR gibt es ein neues Internet-Newsformat von COSMO: In deutscher Gebärdensprache präsentiert die gehörlose Moderatorin Iris Meinhardt täglich aktuelle Infos rund um das Coronavirus. Ich mag Iris gern und kenne sie von der Schule, ich denke sie macht einen super Job! Ich muss es mir unbedingt noch ansehen.

Wo sind dir in den letzten Tagen Barrieren begegnet?

Es gab ein paar Beiträge über Corona in den Nachrichten, anfangs war eine Gebärdensprachdolmetscherin im Bild und plötzlich wurde sie ausgeblendet. Ich bin jetzt ja zuhause, somit fallen die Barrieren im Alltag etwas weg, dafür stoße ich im Internet auf umso mehr. Es gibt zum Beispiel viele Videos – auch lustige zum Thema Corona – aber wir können nicht lachen, weil wir nicht verstehen, was gesagt wird. Es fehlen meist die Untertitel. Ohne die ist es für uns nicht zu verstehen. Klar kann man sagen, das sei nicht wichtig, die quatschen eh nur und es so abtun. Aber habt ihr mal geschaut, wie viele Tausende sich das ansehen? Da bin ich doch neugierig, worüber sie sich unterhalten und wie Entertainment betrieben wird oder Soul Talk! Es interessiert mich, weil früher hätte niemand online über Seelisches gesprochen oder darüber, wie er über bestimmte Dinge denkt. Das scheint erst seit Corona so.

Vor ein paar Tagen wurde eine Online-Petition gestartet: "Corona-Infos auch in Gebärdensprache für Gehörlose!" Worauf genau zielt die Petition ab? 

Darauf, dass die aktuellen Infos und News zum Thema in den Nachrichten barrierefrei sind. Die Hauptforderungen sind: Live-Verdolmetschungen bei Regierungserklärungen und Pressekonferenzen, Gebärdensprachdolmetscher-Einblendungen in allen Informationssendungen zum Corona-Virus im Fernsehen sowie Internet, tagesaktuelle Nachrichten in Gebärdensprache und Übersetzungen von Videos. Außerdem: Eine eigene zentrale und barrierefreie Corona-Hotline für Gehörlose und eine sofortige Umsetzung.

Über 26.000 Menschen haben schon unterschrieben. Das erste Ziel ist geschafft.

Die Beschwerden von Seiten der Tauben und die Petition haben Wirkung gezeigt. Die Regierung hat reagiert, es wurde schon Einiges umgesetzt. Das ist super und man sieht: In Zeiten von Corona, wo sich alle schützen wollen und Solidarität wichtig ist, da geht es zack zack und plötzlich ganz flott, dass auch wir gehört werden.

So hat zum Beispiel der Hamburger Senat Ende Februar ein Erklärvideo in Gebärdensprache veröffentlicht. In Baden-Württemberg wurde eine Pressekonferenz zum Virus simultan in Gebärdensprache übersetzt. Ein guter Anfang?

Ja, immerhin würde ich sagen. Trotzdem ärgert es mich etwas, weil es zeigt, dass es sehr wohl geht und dass die Regierungen etwas tun können, wenn sie wollen.
Mich stört, dass erst dann reagiert wird, wenn es um ihr eigenes und das Wohl anderer Menschen geht. Ansonsten sind wir eine Minderheit am Rande der Gesellschaft.
Solange wurde uns nicht zugehört, sondern über unsere Köpfe hinweg entschieden.
Vielen ist gar nicht bewusst, wie viele Gehörlose darunter leiden und in der Vergangenheit gelitten haben. Ich empfinde es als ein Verbrechen. Wir leben in der Tiefe noch lange keine Demokratie.

Woran denkst du da konkret?

Deutschland hinkt im Bereich der Gehörlosen und Gebärdensprache sehr hinterher.
Die Gebärdensprache ist seit 2002 anerkannt, aber der Weg für echte Veränderung ist langsam. Denn ein Jahrhundert lang hat man den Gehörlosen ihre Sprache genommen, mit dem Mailänder Kongress 1880, das wirkt noch nach. Allein das Schulsystem war zu meiner Zeit - und ist auch heute oft so - katastrophal. In keiner Schule auf der ich war (und ich war auf einigen) wurde in Gebärdensprache unterrichtet, nicht mal in der Gehörlosenschule oder den Integrationsschulen. Hörhilfen sind wie eine Krücke, auch sie haben ihre Grenzen. In den USA dagegen kann man schon lange auf eine Regelschule in seinem Ort gehen und bekommt dort Dolmetscher und in den Gehörlosenschulen wird gebärdet. Ich habe sehr für Gebärdensprache oder Dolmetscher in der Schule kämpfen müssen. Ein Jahr vor meinem Abitur ging ich endlich auf eine private Schule mit Dolmetschern.

Was wünschst du dir für gehörlose Menschen mit Blick auf die nächste Zeit?

Dass nach der Coronakrise nicht vor der Krise ist. Ich wünsche mir, dass uns mehr Gehör geschenkt wird, dass endlich in gehörlosen Schulen gebärdet wird. Und, dass auch gute Leute, die gehörlos sind, in den oberen Positionen sitzen. Ich sehe die Krise als Chance. Ich finde es gut, dass die Welt mal in sich gehen muss, runterfahren muss, aus diesem Rhythmus herausgerissen wird und hoffentlich ein neues und höheres Bewusstsein entsteht.

Zur Person:

Kassandra Wedel wurde 1984 in Hessen geboren, mittlerweile lebt sie in München. Dort studierte sie Theaterwissenschaften und Kunstpädagogik, arbeitet heute als Choreografin und Schauspielerin, unter anderem an den Münchner Kammerspielen. Sie ist Hip-Hop Weltmeisterin und Europas erste gehörlose Tanzlehrerin. Seit einem Autounfall, bei dem sie vier Jahre alt war, kann sie nicht mehr hören. Daran, wie Geräusche, Stimmen oder Musik klingen, erinnert sie sich nicht mehr. Beim Tanzen aber spürt sie den Bass und den Rhythmus.


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