Bayern 2

     

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Silber des Meeres

Von: Simon Demmelhuber / Sendung: Roman Neumann

Stand: 15.12.2017 | Archiv

Mensch, Natur und UmweltRS, Gy

Er war ein echter Star, der König der Fische. Jahrhunderte lang wurde der Hering mit Gold aufgewogen. Er nährte die Massen, begründete Handelsimperien, löste Kriege aus, inspirierte Köche und Künstler. Dann kam der Karriereknick.

Klar, das klassische Katerfrühstück! Wenn nach überreichlichem Alkoholgenuss morgens der dicke Schädel dröhnt, gehört der Hering ganz einfach dazu. Das wusste schon Heinrich Seidel, der ihm um 1900 augenzwinkernd ein lyrisches Denkmal setzte: "Wer niemals einen Häring aß, wer nie durch ihn von Qual genas, wenn er mit Höllenpein erwacht - der kennt nicht seine Zaubermacht!"

Kleiner Fisch, große Geschichte

Keine Frage, Heringe sind beliebt, nicht nur als salzige Ausnüchterungshelfer. Rund 160.000 Tonnen Heringsprodukte verzehren die Deutschen jedes Jahr, das entspricht etwa einem Fünftel aller Fischwaren, die in der Bundesrepublik verspeist werden. Doch wohl kaum einer, der sich heute seinen Hering grün, eingelegt, geräuchert oder gebraten schmecken lässt, weiß um die Bedeutung, die der eher unscheinbare Leckerbissen einst hatte.

Heringsgold und Hanseaufstieg

Gefangen und verzehrt wurde der Hering schon immer. Bereits in der Jungsteinzeit stand er an der Ost- und Nordseeküste auf der Speisekarte. Der Aufstieg zum "König der Fische" begann jedoch erst Mitte des 13. Jahrhunderts, als die Kaufleute der Hanse ihre Fangmethoden und den Vertrieb professionalisierten. Durch Räuchern und Einsalzen haltbar gemacht, durch Monopole, Privilegien und Handelsverträge geschützt, wurde der Ostseehering zum europaweit begehrten Exportschlager, der die Kassen der Hansestädte mit Gold und Silber reichlich füllte. Die Nachfrage war immens: Rund 140 bis 160 Fastentage pro Jahr trieben den Bedarf an heilskompatiblen Fastenspeisen in schwindelnde Höhen, in zahlreichen Kriegen diente die unverderbliche Dauerware als leicht transportable Marschverpflegung. Heringstonnen mit dem Siegel der Hanse wurden bis nach Skandinavien, nach Russland und ins Baltikum, nach Süddeutschland, Polen, Italien und Portugal verschifft, geflößt und gefahren.

Machtwechsel im Heringsgeschäft

Nahezu 300 Jahre beherrschte die Hanse den Heringsmarkt unangefochten. Erst um die Mitte des 16. Jahrhunderts, als die Heringsschwärme in der Ostsee immer häufiger ausblieben, wendete sich das Blatt zu Gunsten der Niederländer. Mit neuen Schiffstypen hatten sie sich nicht nur die ertragreichen Fanggründe der Nordsee eröffnet, sie waren auch entschlossen, dieses Revier notfalls mit Waffengewalt gegen Engländer, Spanier und Deutsche zu verteidigen.

Das Brot der Armen

Der Beliebtheit des Herings tat dieser Vormachtwechsel allerdings keinen Abbruch. Im Gegenteil: Mit dem stetigen Bevölkerungswachstum stieg auch der Heringskonsum kontinuierlich an. Als die Industrialisierung zu Beginn des 19. Jahrhunderts Fahrt aufnahm und immer mehr Arbeiterhaushalte in den rasch expandierenden Städten mit preiswerter Nahrung versorgt werden mussten, avancierte der Hering neben Brot und Kartoffeln zum Grundnahrungsnahrungsmittel der Armen. Einen weiteren Aufschwung erfuhr der Verbrauch in den 1920er und 1930er Jahren durch den propagandistisch angeschobenen Versuch, der deutschen Familie den wohlfeilen Hering als gesunden Fleischersatz schmackhaft zu machen.

Kahlschlag und Neuanfang

Jahrhunderte lang schien der Reichtum der Meere unerschöpflich. Immer größere Schiffe beuteten immer entlegenere Fanggründe aus, die Gier nach Profit kannte keine Grenzen, die Methoden wurden immer rabiater. In den 1970er Jahren präsentierte die geplünderte Natur ihre Rechnung für den rücksichtslosen Raubbau an einem fragilen Ökosystem. Der Atlantik war hoffnungslos überfischt, die Bestände schrumpften dramatisch, der Hering drohte zu verschwinden. Buchstäblich fünf vor zwölf schafften internationale Fischerei-Vereinbarungen die Wende: Jährlich neu ausgehandelte Fangmengen, Mindestgrößen und schonende Fangmethoden sollten fortan den Erhalt der Population schützen. Die Maßnahmen griffen, der Bestand erholte sich, und heute ist der Bestand zumindest im Atlantik nicht mehr bedroht.

Vom Speisefisch zum Tierfutter

Aussterben wird der Hering zum Glück also nicht, aber seinen Glanz als "König der Fische" hat er längst eingebüßt. "Hochwertigere" und damit für die Industrie lukrativere Speisefische wie der Alaska-Seelachs haben ihn vom Thron des deutschen Lieblingsfisches verdrängt. Ein ständig wachsender Anteil der Fangmenge landet daher nicht mehr in Pfannen oder Töpfen, sondern in Fischmehlfabriken, die Futtermittel für die Tiermast und die Aquakultur herstellen. Ein bedenkliche Entwicklung: Immerhin vier Kilo Heringsmehl sind nötig, um nur ein Kilo Lachs zu produzieren. Dass der dann viermal besser schmeckt und besser sättigt, als sein Futterlieferant, ist zweifelhaft. Offen bleibt obendrein auch die Frage, ob Lachs den Kater ebenso effektiv verscheucht, wie der Hering am Morgen danach.


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