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Führen und verführen lassen Variationen der Verführung in der Stadt

Die althergebrachte Stadtführung hat noch nicht ausgedient, aber sie bekommt Konkurrenz. Ob "Walk in the Dark" oder "Straßenkrimis zum Mitmachen": Kulinarische, kulturelle oder abenteuerliche Erlebnisführungen sind derzeit angesagt.

Von: Horst Konietzny

Stand: 18.10.2019 | Archiv

Ob als Firmenevent, spezielles Schmankerl für den Kindergeburtstag, oder einfach als kleine Unterbrechung des Gewohnten: In vielen Städten sind heftige lokale Migrationsbewegungen zu beobachten. Die Menschen schließen sich zu Gruppen zusammen und verlassen dabei "ausgetretene Pfade".

Besondere Erlebnisführungen nach modernsten Forschungsergebnissen

Eine Gruppe spürt in Nürnberg rotem Bier und blauen Zipfeln nach.

So sagt man jedenfalls gern, wenn man die Menschen locken möchte, sich auf die Suche nach vergessenen Kellergeistern zu machen, im Live-Krimi Täter zu überführen, die Stadt bei Nacht entdecken oder in finsteren Gängen nach Schätzen zu suchen. Und dies sind nur ein paar Beispiele für besondere Erlebnisführungen, die allein in Nürnberg angeboten werden. Wo es sogar eine Führung gibt, die erleben lassen soll, wie Nürnberg denn so schmeckt. Mahlzeit sag ich.

Stellt man sich aber vor, wie die hungrigen Kulinariker mit hängenden Zungen und aufgestellten Ohren durch das Gemisch aus Bratwurstdunst und Auspuffqualm flanieren, dann sieht man modernste Forschungsergebnisse umgesetzt. Denn in einer Studie zu Marketing und Erlebnis im Tourismus ist zu lesen:

"Das räumliche Umfeld des Erlebnisangebotes sollte sensorisch so gestaltet werden, dass es vom Kunden möglichst über alle fünf Sinne wahrgenommen werden kann. Durch die physiologische Wahrnehmung der Umwelt können emotionale Reaktionen hervorgerufen und die Erlebnisintensität erhöht werden. Allerdings muss der Einsatz der Sinnesreize sorgfältig geplant sein, denn eine übermäßige Stimulierung aller Sinne führt womöglich zu einer Reizüberflutung und sorgt für Irritation beim Kunden. Eine 'Dramaturgie der Sinne' wird deshalb benötigt."

Studie zu Marketing und Erlebnis im Tourismus

Foxtrails: Auf Freiluft-Schatzsuche in der Stadt

Es ist an der Zeit, die Dramaturgie der Sinne in der Realität zu überprüfen. Frank Ruckziegel ist Veranstalter eines sogenannten "Foxtrails". Eines Führungskonzeptes, in dem sich kleine Gruppen in der Stadt auf Schatzsuche begeben.

"Selbst als Nürnberger kommt man in Ecken von Nürnberg, die die meisten Nürnberger überhaupt nicht auf dem Schirm haben. Sie kennen es vielleicht, aber die Örtlichkeit ist ihnen nicht wirklich bewusst. Man geht in Objekte rein, die man entweder gar nicht kennt oder in denen man schon lange nicht mehr drin war. Und lernt Nürnberg in Form von einem kleinen Abenteuer neu kennen."

Frank Ruckziegel, Veranstalter 'Foxtrails'

Eine erste Gruppe hat sich auf den Weg gemacht. Wir versuchen erst einmal eine Einordnung des Geschehens mit Hilfe einer Expertin für Führungsfragen: Kathrin Lehnerer vom Verein "Geschichte Für Alle".

"Ich denke schon, dass in den letzten Jahren der eventhafte Bereich zugenommen hat. Also den Leuten ist es nicht mehr genug, zwei Stunden zu Fuß durch die Stadt zu gehen und etwas zu erfahren, sondern die wollen ein großes Feuerwerk abgebrannt bekommen. Was seine Berechtigung hat, solange der historische Kontext nicht zu kurz kommt. Aber man hat schon das Gefühl, es muss etwas eventhaftes dabei sein, damit es einen Anreiz hat."

Kathrin Lehnerer, Verein 'Geschichte Für Alle'

Vielfältige Erlebnisanreize in den Nürnberger Felsenkellern

Eine Gruppe Touristen im Escape-Room in den Nürnberger Felsenkellern

Ein klassischer Ort für solche Anreize ist seit Kindertagen der Keller. Nun ist Nürnberg mit einem ganzen Netz von Kellern untergraben, die sich nicht nur zum Lagern von Eis und Bier oder als Luftschutzraum eignen. In den historischen Felsengängen gibt es vielfältige Erlebnisanreize. Zum Beispiel einen sogenannten Escape-Room, wo jeweils eine kleine Gruppe gemeinsam verschiedene Rätsel zu lösen hat.

Weil die Tür aus Sicherheitsgründen offenbleiben muss, geht es hier nicht so sehr um klaustrophobischen Nervenkitzel, sondern darum, mit Geschichtswissen zu punkten, versteckte Symbole zu entschlüsseln und die Rätsel eines mysteriösen Professors Zug um Zug zu lösen.

"Es hat schon einen Anspruch. Man muss in der Historie der Stadt Nürnberg schon ein bisschen kundig sein. Im Team funktioniert es auch ganz gut. Wenn das Team gut zusammenarbeitet, dann ist es schon in der Lage, in 60 Minuten das Rätsel zu lösen. Unter 50 Minuten hat es aber noch niemand geschafft. Dann müssen die Leute schon mitmachen. Und auch auf der Höhe der Zeit sein."

Reinhard Engel, Chef der Altstadthof Brauerei

In der besonderen Atmosphäre der weiträumig angelegten Keller gibt es Stoff für viele weitere Führungen zu unterschiedlichen Themen.

"Das geht los mit einem kurzen Einstieg zur Historie im Zweiten Weltkrieg, dann werden die Leute darauf hingewiesen, dass es jetzt in den historischen Bereich hineingeht, man also nicht die Bunkeranlage, sondern Sandsteingewölbe sieht. Die ganzen Kellerareale sind miteinander verbunden worden im Zweiten Weltkrieg, damit auch die Entfluchtung für die Schutzsuchenden möglich war. Wir müssen jetzt etwas aufpassen, dass wir uns nicht im Kopf angeschlagen. Einssiebzig ist die Höhe."

Reinhard Engel, der Chef der Altstadthof Brauerei

"Geschichte für Alle" in Nürnberg

Eine Postkarte mit rotem Bier und blauen Zipfeln.

Ein Topthema der Führungsbranche ist das Essen und Trinken.  Ein Klassiker in Nürnberg ist eine Tour, die sich den Spielarten der Bratwurst und dem roten Bier annähert. Diese Tour, wie auch der Escape Room in den Felsengängen, oder die Tour durch das Reichsparteitagsgelände, die wir etwas später noch buchen wollen, werden durchgeführt von "Geschichte Für Alle", einem Verein, der 1981 als Initiative von Geschichtsstudierenden gegründet wurde, die es sich zur Aufgabe gemacht hatten, die Geschichte Nürnbergs und mittlerweile auch von Erlangen und Bamberg wissenschaftlich fundiert aber unterhaltsam für Alle zu vermitteln. 11.000 Führungen pro Jahr sind eine stolze Zahl. Wer führt denn da eigentlich?

"Eigentlich Leute, die ein großes Interesse an Geschichte haben, oder bei unseren Führungen dabei waren. Die Bandbreite geht von der Hausfrau über Studenten bis zum Rentner, die immer noch Lust haben, etwas zu machen und sich fortzubilden und dann für uns im Einsatz zu sein."

Kathrin Lehnerer, Verein 'Geschichte Für Alle'

Neben der fachlichen Kompetenz hat der Verein ein Gespür dafür, was die Kunden besonders interessiert.

"Der Blick hinter verschlossene Türen, das ist der totale Renner. Da haben wir verschiedene Angebote wie das alte Volksbad und wir können in die Zeppelintribüne, in den goldenen Saal rein. Das kann man sonst nicht und das zieht sowohl Touristen als auch Einheimische an."

Kathrin Lehnerer, Verein 'Geschichte Für Alle'

Beliebtes Führungsziel: das Nürnberger Reichsparteitagsgelände

Ein besonders attraktives und geschichtlich bedeutendes Ziel ist das Nürnberger Reichsparteitagsgelände.

"Kommen Sie ein bisschen näher ran. Auch hier muss man ein bisschen die Sonne aushalten. Das sollte ja hier der Redetempel für Adolf Hitler werden. 50.000 Leute sollten hier reinpassen. Die größte Orgel der Welt wäre hier eingebaut gewesen."

Frank Venjakob, Gästeführer des Vereins 'Geschichte für Alle'

Frank Venjakob ist ein nebenberuflicher Gästeführer. Sein Arbeitsplatz liegt gleich nebenan im Messezentrum. Er hat die Tour regelmäßig im Programm.

"Wir laufen heute nur eine kleine Strecke ab. Aber das trägt schon eine Menge dazu bei, dass man eine Idee bekommt, wie groß das Ganze hier war und wie viele Menschen hier von der Propaganda vereinnahmt wurden. Das ist schon spannend. Viele kommen informiert und wissen viel aus Büchern und wollen es im Original noch mal sehen. Es kommen viele, die persönlich interessiert sind. Auch Schüler, die das in der Schule schon gehabt haben. Und jetzt aus eigenem Antrieb kommen mit den Eltern. Da hat man spannende Konstellationen."

Frank Venjakob, Gästeführer des Vereins 'Geschichte für Alle'

Eine Führung des Vereins Geschichte für Alle auf dem ehemaligen Reichsparteitagsgelände.

Frank Venjakob macht die Führungen schon seit 2003. Nicht jedes Wochenende, aber so 15 bis 20 Rundgänge im Jahr sind es sicher. Es gibt dabei immer wieder denkwürdige Begegnungen mit Besuchern. Zum Beispiel an einem 20. Juni, dem Tag des Attentats auf Adolf Hitler.

"Da kam ein Mann und sagte: Ja, ist das hier eine Führung und kann ich noch mitlaufen? Und ich sag' natürlich! Wir sind zwar fast am Ende, aber gerne. Auf der Zeppelintribüne hab’ ich mich dann noch ein bisschen mit ihm unterhalten und dann stellte sich heraus, dass er aus Hameln kam und mit dem Auto unterwegs nach München war und im Radio eben über dieses Stauffenberg Attentat berichtet wurde. Und dann hat er einen Satz gesagt, den finde ich immer noch super beeindruckend: 'Und da bin ich spontan von der Autobahn runtergefahren und hab mir gedacht, heute ist ein Tag, um sich mit deutscher Geschichte zu beschäftigen.' Das fand ich sehr beeindruckend."

Frank Venjakob, Gästeführer des Vereins 'Geschichte für Alle'

Soviel für heute. Morgen geht's dann zu den "Üppigen Engeln" und zu "Liebe, Lust und Laster". Oder doch lieber zu Mördern, Fälschern, Messerstechern? Oder zu "Links und rechts der Fürther Straße"? Vielleicht danach als Trash Tourist ein wenig Müll aufsammeln, wie es gerade im Berliner Mauerpark ganz in sein soll? Oder einfach mal zu Hause bleiben und sich vom Radioprogramm "führen" lassen.


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