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Ein Sportmagazin wird 100 Der Kicker, der Fußball und der Journalismus

1920 gründet Walther Bensemann den Kicker. Bis heute muss sich das Sportmagazin ständig erneuern, um weiter mitzuspielen. 100 Jahre Kicker sind zugleich 100 Jahre Fußballgeschichte und Sportjournalismus im Medienwandel.

Von: Anja Bühling und Oliver Tubenauer

Stand: 21.12.2020

Den Ruf einer Instanz hatte der Kicker schon zu Beginn seiner 100-jährigen Geschichte. Sie begann, als der Fußball in Deutschland zu einer Massenbewegung wurde und sie führt in die junge Weimarer Republik. In ein nach dem Ersten Weltkrieg traumatisiertes Deutschland. Soziales Elend, Arbeitslosigkeit, Hunger, eine rasende Inflation und politische Unruhen waren der Alltag in der noch jungen Weimarer Republik, die unter den Beschlüssen der Versailler Verträge litt.

Die Gründung des Kicker

In dieser von nationalen Strömungen geprägten Zeit gründete der Fußballpionier Walther Bensemann in Konstanz den "Kicker – eine illustrierte Wochenzeitschrift für die Schweiz und Deutschland". Der 47-Jährige war zugleich Verleger, Herausgeber, Autor und Korrespondent. Bensemann galt als bekannte, streitbare Größe im Fußball, der das im 19. Jahrhundert als "Fußlümmelei" verschriene Spiel in Deutschland populär machen wollte. Kennengelernt hatte der jüdische Kaufmannssohn aus Berlin die "englische Krankheit" als Schüler im Schweizer Internat.

"Da waren ja viele englische Schüler in den Internaten in der Schweiz und dadurch war die Schweiz so eine Art Einfallstor auf dem Kontinent für den Fußball. Und er hat da gleich, in dem ihm eigenen Tatendrang, den ersten Verein auch gegründet, den FC Montreux, den es heute noch gibt. Und er ist dann 1889 nach Karlsruhe gekommen, um dort das Abitur abzulegen und da hat er dann den Fußball mitgebracht und war dann der Erste, der in Süddeutschland den Ball sozusagen ins Rollen gebracht hat."

Bernd Beyer, Autor

Walther Bensemann – exzentrischer Fußballmissionar

Der Autor Bernd Beyer hat das Leben des Walther Bensemann erforscht und einen biografischen Roman über den exzentrischen Fußballmissionar geschrieben. Darin wird deutlich, wie groß der Anteil des Bensemanns an der Entwicklung des Fußballs in Deutschland war. Bensemann hatte schon in jungen Jahren zahlreiche Vereine gegründet, darunter die Karlsruher Kickers und auch die Vorläufer des FC Bayern München und der Eintracht Frankfurt. Außerdem hat er daran gearbeitet, in Deutschland zukunftsfähige Strukturen aufzubauen, etwa mit der Gründung des Deutschen Fußball-Bundes.

"Im Januar 1900 ist der DFB gegründet worden und, von einer Delegiertenversammlung, und Bensemann war einer der Delegierten. Er hat da kräftig mitdiskutiert, er war ja damals schon eine sehr bekannte Figur auf der Fußballtribüne. Und er hat unter anderem dem DFB den Namen gegeben. Also der Name Deutscher Fußball-Bund stammt von Bensemann. Darüber wurde dann auf seinen Vorschlag abgestimmt und der Name angenommen."

Bernd Beyer, Autor

Fußball als Mittel der Völkerverständigung

Bensemanns Credo: Fußball sollte der Völkerverständigung dienen. So hatte er schon 1899 die ersten Länderspiele einer deutschen Auswahl mit dem Mutterland des Fußballs, mit England, organisiert. Dort arbeitete er auch als Lehrer, bevor der Erste Weltkrieg ausbrach. Nach den verheerenden Erfahrungen dieses Krieges, bemühte sich Bensemann um Aussöhnung mit den Erzfeinden mittels des Fußballs, wie er ihn sah: als "Gentleman Sport" mit Idealen wie Fairplay, Toleranz und Altruismus. Und der Kicker sollte sein Sprachrohr dafür sein.

"Er wollte sich ein eigenes Forum schaffen, in dem er auch selber die Leitlinie bestimmen konnte. Und die Leitlinie formulierte er so: Der Kicker ist ein Symbol der Völkerverständigung durch den Sport."

Bernd Beyer, Autor

Während Bensemann sich für das Profitum im deutschen Fußball einsetzte, wollte der DFB weiterhin reinen Amateurfußball. 1925 verbot der DFB deshalb auch Freundschaftsspiele gegen ausländische Profimannschaften. Bensemann reagierte mit einer Glosse auf das Verbot.

"Leute, die viel intelligenter sind und natürlich auch viel patriotischer als der Schreiber dieser Zeilen, halten die Idee der Völkerversöhnung durch den Sport für eine Utopie; sie vergessen dabei, dass erstens einmal jedes Ideal utopisch ist und bekunden gleichsam eine Abneigung gegen das Große, weil es uns heute noch unerreichbar erscheint. Zudem haben die Verfechter einer pazifischen Sportidee nie geglaubt, dass der Sport jemals einen Krieg verhindern oder verdrängen könnte. Er ist eben dazu da, um verlorengegangene Fäden wieder anzuknüpfen und die Idee der reinen Menschlichkeit allen Ländern wieder und wieder vor Augen zu führen."

Aus einer Glosse von Walther Bensemann, herausgegeben im Buch 'Der König aller Sports' von Bernd Beyer

Der Kicker zieht nach Nürnberg um

Bensemann reiste viel, lebte auf großem Fuß und pflegte sein internationales Netzwerk, aber ihn plagten immer mehr finanzielle Nöte. Sein geerbtes Vermögen war aufgebraucht, die Absatzzahlen seiner Zeitschrift zu gering. So entschloss sich der Herausgeber 1925 mit dem Kicker in die damalige Fußballhochburg Nürnberg zu ziehen. Er verkaufte Anteile an seinem Blatt an eine Nürnberger Druckerei und musste sich von nun an mit den neuen Miteigentümern arrangieren – eine Abhängigkeit, die ihn immer mehr einengte. Außerdem standen die Zeichen der Zeit gegen den Herausgeber.

Bensemann stirbt verarmt in der Schweiz

Immer größer wurde der Druck auf den Kicker-Gründer. Wie alle jüdischen Mitbürger wurde er zunächst unterschwellig, dann immer offensichtlicher angefeindet, auch von führenden Mitgliedern des von ihm mit begründeten DFB. Zwei Monate nach der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten, schrieb Bensemann am 28. März 1933 seine letzte Glosse für den Kicker. Darin kündigte er einen Kuraufenthalt in der Schweiz an. Am 30. Mai 1933 vermeldete der Kicker kommentarlos, dass Walther Bensemann aus seinem Sportmagazin ausgeschieden sei.

Bensemann flüchtete zunächst in ein Züricher Sanatorium, dann nahmen ihn alte Freunde aus seiner Jugendzeit auf. Am 12. November 1934 starb der Kicker-Gründer verarmt in Montreux. Die örtliche Zeitung verfasste zu seinem Tod eine Hymne auf "Monsieur Walther Bensemann – genannt der König des deutschen Fußballs." Dem Kicker war die Nachricht vom Tod seines Gründers nur einen Satz wert.

Gleichschaltung im Dritten Reich

1933 wurden unter den Nationalsozialisten die Fußballverbände aufgelöst. Auch der DFB wurde gleichgeschaltet und schließlich 1940 aufgelöst. Der Fußball wurde von den Machthabern nur dann gefördert, wenn sie den Erfolg eines Vereins für ihre eigenen Interessen instrumentalisieren konnten – so wie beim FC Schalke 04, der von 1933 bis 1945 sechsmal Deutscher Meister wurde.

Die Medien wurden Propagandaminister Joseph Goebbels unterstellt. Auch der Kicker wurde auf die Linie der Nationalsozialisten Linie gebracht. 1944 wurde er schließlich eingestellt. Was genau mit dem Kicker in diesen Jahren passierte, soll eine Studie grundsätzlich aufarbeiten, die der Kicker zum 100-jährigen Jubiläum bei Experten in Auftrag gegeben hat.

Skeptischer Start ins Unbekannte – der Kicker geht online

Als sich 1997 der Kicker als einer der ersten Sportmagazine hierzulande dazu entschloss, Online zu gehen, betrat der Verlag ein noch unkalkulierbares Neuland. Niemand wusste, wohin sich der Journalismus entwickeln würde. Um den digitalen Wandel mitanzustoßen, wurde Alexander Wagner als Leiter für Digitales ins Boot geholt. Heute bildet er gemeinsam mit Jörg Jakob und Rainer Franzke das Chefredakteurs-Trio am Nürnberger Hauptsitz mit rund 100 Mitarbeitern.

"Als wir angefangen haben mit unseren digitalen Plattformen hier im Haus Kicker war's natürlich so, dass wir zunächst auch belächelt wurden von den Printkollegen, von den echten Journalisten, wie sie sich auch empfunden haben und das Ganze auch nicht so ganz ernst genommen haben, was im Digitalbereich oder 'in diesem Online' passiert."

Alexander Wagner, Chefredakteur Kicker

War es anfangs nur eine Meldung am Tag, wurden nach und nach neue Formate für die Webseite entwickelt. Überraschend schnell gewann "dieses Online" an Reichweite und die Zugriffe stiegen. Mit der steigenden Reichweite der Seite, wuchs die Zahl der Werbekunden. Und jetzt nach zwanzig Jahren online, ist allen bewusst, wie wichtig der frühe Einstieg ins Internet war. Mittlerweile werden zwei Drittel der Erlöse beim Kicker digital erzielt. Allein im Februar 2020 wurden über 230 Millionen Visits, also Besucher auf den digitalen Ausspielwegen wie App, Webseite, E-Paper oder dem TV-Kanal gezählt. Am meisten gefragt sind dabei die Live-Ticker.

Fußball-Ticker – immer live dabei

Simple Live-Ticker, generiert von Computern, sind auf vielen Apps und Sportportalen längst normal. Sie bestehen aus einem Set wie Ecke, Abseits, Tor, Gelbe Karte, Spielunterbrechung und sind voll automatisiert. Sie und auch automatisierte Spielberichte basieren auf den mitgetrackten Daten aller Bewegungen der Spieler und der Daten der spielrelevanten Ereignisse. Und diese Daten werden mit Satzschablonen kombiniert, sagt Simon Meier-Vieracker. Der Professor an der TU Dresden lässt Computer große Mengen Daten aus dem Internet von Seiten wie kicker.de oder weltfussball.de nach Worthäufigkeiten oder sprachlichen Mustern durchforsten, die er analysiert.

"Und die Satzschablonen, die werden zum Teil einfach gelernt mit künstlicher Intelligenz auf Basis von einer großen Sammlung an menschlichen Spielberichten, wo typische Formulierungen automatisiert herausgearbeitet werden und teilweise werden auch diese Schablonen von Menschen vorformuliert. Dann gibt’s da sogenannte Leerstellen, so Variablen, wo’s nur heißt: Hier muss ein Adjektiv eingesetzt werden oder hier muss ein Spielername eingesetzt werden und da können dann die Daten greifen."

Simon Meier-Vieracker, Computer-Linguist an der TU Dresden

Während dem Roboter nach Meinung des Linguisten von der TU Dresden beim Live-Ticker noch Grenzen gesetzt sind, sieht es bei Spielberichten, die nach dem Schlusspfiff geschrieben werden, ganz anders aus. Wenn die von Robotern geschrieben werden, "fehlt irgendwie das Leben und die Emotion", sagt Jana Wiske, Professorin für Ressortjournalismus.

Die Grenzen der computerbasierten Live-Ticker

Die Emotionen sind gerade auch dann Thema, wenn auf oder um den Platz etwas Ungewöhnliches passiert und die Partie sozusagen aus dem automatisierten Ruder läuft – wie etwa bei dem Spiel des FC Bayern München gegen die TSG Hoffenheim am 29. Februar 2020. NN-Sportchef Hans Böller bekam mit, dass das Spiel wegen beleidigender Fan-Banner gegen den Hoffenheimer Mäzen Dietmar Hopp länger unterbrochen wurde. Die Spieler kickten derweil einfach herum.

"Ich habe einen Liveticker verfolgt, lustiger Weise als Bayern München gegen Hoffenheim, als beide den Spielbetrieb eingestellt hatten. Der Live-Ticker lief munter weiter, mit irgendwelchen Formeln, wo man dann sagt: 'O.k., so kommen die also zustande'. Wenn sie sich den Ball gegenseitig zuspielen, heißt es 'auffällig viele Ballverluste von Bayern und jetzt von Hoffenheim'. Also das war dann tröstlich, weil man sieht, dass diese Maschinen an Grenzen stoßen."

Hans Böller, Sportchef der Nürnberger Nachrichten

Buch- und Literaturtipps zum Thema

Bernd-M. Beyer: "Der Mann, der den Fußball nach Deutschland brachte", biografischeer Roman, erw. Neuauflage 2014, Verlag die Werkstatt

Bernd-M. Beyer: "Walther Bensemann – Kosmopolit des Fußballs, Gründer des 'Kicker'" in der Reihe „Jüdische Miniaturen“, 2019 Hentrich &Hentrich Verlag, Berlin Leipzig

"Der König aller Sports – Walther Bensemanns Fußball Glossen", herausgegeben von Bernd M. Beyer, 2008, Verlag die Werkstatt

"Das goldene Buch des deutschen Fußballs", herausgegeben von Hardy Grüne und Dietrich Schulze-Marmeling, 2. Auflage 2016, Verlag die Werkstatt

Harald Kaiser: "Ronaldo, Matthäus & ich: Mein Leben als Kicker-Reporter", 2019, Verlag die Werkstatt


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