Bayern 2


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Eine neue Art des Fensterlns Distanzierte Nähe

Ruth Geiersberger schaut aus dem Fenster, hinein in andere Fenster und überlegt sich, wer diese Menschen eigentlich sind, ihre Nachbarn seit über 30 Jahren. Sie fängt an Geschichten zu bauen: Erdachte und wahre Geschichten hinter den Fenstern der Großstadt.

Von: Ruth Geiersberger

Stand: 21.04.2022 | Archiv

Also zu dem Riesenkater direkt gegenüber, würd ich schon mal gern einsteigen.

Treppenhaus

Dieses Tier hat die Fähigkeit sich mit solch ungeheurer Grandezza im Fensterrahmen einer Dachgaube, zu positionieren. Es weiß genau wo die Mitte ist, welches Licht wann, wie über seinen Pelz streicht, um seine Schönheit und Wichtigkeit zu betonen, das Katzentier weiß sich zu inszenieren. Da muss Testosteron im Spiel sein, es muss ein Kater sein, ein italienischer, ein Prachtbursche - ein Gatto eben. Ich muss gestehen, dafür hab ich eine gewisse Schwäche. Ein bisserl Macho, darf schon ab und zu sein!

Soll ich es wagen, einfach mal da und dort zu klingeln? Soll ich versuchen die wahren Geschichten meinen erfundenen gegenüber zu stellen? Viele gehen ja erst gar nicht an die Gegen-Sprechanlage, weil man keine Pakete mehr für den Nachbarn annehmen möcht, sich nicht mit Jesus auszusöhnen braucht, kein Zeitungs-Abo sondern einfach nur seine Ruh haben will.

Blick aus dem Fenster

Die erste Person, die mich in ihre Wohnung lässt, ist die Dame, die um die Osterzeit immer einen großen goldenen Hasen in eines ihrer Fenster stellt. Von außen eine stattlich- anmutende Wohnung mit herrschaftlichem Balkon. Eine energievolle, spritzige, fesche Frau um die 50, das graubraune Haar im Nacken zusammengebunden. Sie trägt eine lässige zu-Hause-Kleidung, blauer Pulli, Jeans, Pantoletten und empfängt mich so fröhlich und freundlich als hätten wir schon mal das ein oder andere Glas Wein zusammen getrunken. Silke, erfahre ich, ist in der Werbebranche tätig und wohnt seit etwa 15 Jahren hier; einst aus Liebe zu einem ungarischen Mann von Hamburg in den Süden gezogen, weil München etwas näher an Budapest sei. Er zog weiter, sie blieb und schaut jetzt jahrelang auf den gleichen Platz wie ich, nur eben von der anderen Seite der Straße. Wo geht Silkes Blick hin?

Zuerst nach oben; dann geht er meistens so auf das Haus gegenüber, da ist nämlich ein wunderbarer Balkon, und wo ich mich immer frage, warum die Leute nicht aufm Balkon sitzen, der wird nämlich echt selten genutzt… da sitzt kaum jemand drauf auf dem wunderschönen Balkon. Dann guck ich immer nach, wie heute auch, was die Bäume machen. Die Bäume sind nämlich jetzt bis hier in den fünften vierten Stockwerk hoch gewachsen,… als ich hier eingezogen bin waren die ganz klein, da sind sie erst gepflanzt worden, die alten sind abgehackt worden… und was ich mir dann immer wünsche, wenn ich heute in den Himmel gucke, ich möchte hier oben mal sitzen, und einen richtig norddeutschen Sturm erleben… mit Wolkenbildung, und wildem Wolkenzug, aber das passiert in München nicht…haha
Silke, Nachbarin

Wir stellen uns beide ans Fenster und endlich sehe ich meinen Platz mal von der anderen Straßenseite aus der Vogelperspektive. Neuer Blickwinkel -  neuer Gedanke? Was macht ein Ausblick mit den Gedanken – neue Einblicke durch Überblick?

Das hab ich schon immer gern gemacht, einfach dahocken und die Gedanken ziehen lassen, wie die Wolken, wie die Vögel, wie die Sonnenstrahlen, wie der Wind, wie die Regentropfen. Wann und warum seh ich was, und wie mischen sich die eigenen Gedankengespinste meiner Ideen-Welt mit der Welt da draußen…

Wer ist diese Dame, die unerbittlich tagtäglich frühmorgens ihre Gymnastikübungen macht? Die Arme schwingt in Form einer liegenden acht? Sich reckt und streckt, den Körper ausklopft? Ob sie dabei wohl auch ein wenig summt? Ganz weit hinten im Raum könnte eine große Buddha Figur stehen; einige Bilderrahmen lehnen am Fenster.

Ich fühl mich hier sehr beschützt, und freu mich eigentlich immer, wenn ich in meine Zimmer komme; und draußen ist, ja, alles andere; haha alles andere Weite, Schöne, Abenteuer, Fremde…
Brita Hobbymalerin

Bei mir gegenüber wird eine Wohnung entrümpelt. Die Haustür steht deshalb offen und lockt mich an. Ich schleich mich ins Treppenhaus, und lausch den Geräuschen wie einem Konzert für zeitgenössische Musik. Der Lärm des Herausbrechens eingebauter Schränke hört sich an, wie das Zersplittern eines riesigen Knochengerüsts. Der Lebenswohnkörper eines Menschen wird zerstört, seine Geschichte zerlegt. Dinge, die für diese Person wohl etwas wert waren, werden wertlos, werden zu Mist und Müll.

So bauen sich neue Geschichten aus alten, und verborgene, gelebte Schicksale blitzen auf aus Hinterlassenschaften. Manches bleibt, vieles vergeht, alles ist ständig im Wandel, immer und überall. Wer die Welt kennenlernen will, kann so vieles auch in unmittelbarer Nähe finden, muss dazu nicht unbedingt in die Ferne reisen. Ich kann mir durchaus vorstellen in Zukunft mit Silke ab und zu ein Glas Wein zu trinken. Vielleicht werde ich mich auch mit Veronika über ein neues Buch, oder mit Brita über Körperübungen austauschen… und, wer weiß, was da sonst noch so lauert, hinter den Fenstern? Vielleicht hebt man einen Schatz, der einfach da ist und gefunden werden will.


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