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Wünsche und Wirklichkeit Die nationale Diabetesstrategie

Am 3. Juli 2020 verabschiedete der Bundestag eine "Nationale Diabetesstrategie" mit verschiedenen Kernforderungen an die Bundesregierung. Welche Forderungen sind das und reichen sie aus?

Von: Sabine März-Lerch

Stand: 05.11.2020

Ein Geldbeutel mit einem Diabetikerausweis und eine Einweg-Spritze. | Bild: BR/Johanna Schlüter

Die Schwerpunkte: Prävention und Versorgungsforschung zu Adipositas und Diabetes sollten ausgebaut werden und Menschen mit Adipositas über den Leistungskatalog der Krankenkassen versorgt und behandelt werden. Und weiter: Adipositas als Krankheitsbild - immerhin einer der größten Risikofaktoren für die Entstehung eines Diabetes – müsse mehr als bisher Thema der ärztlichen Fort- und Weiterbildung sein. Schlussendlich, so ein Kernpunkt der Nationalen Diabetesstrategie, sei allgemein die Aufklärung über die Krankheit Diabetes und ihre Ursachen zu verbessern. Eine zentrale politische Forderung: Prävention nicht nur auf die Gesundheitsversorgung zu beschränken, sondern auch die Lebensmittelbranche in die Pflicht zu nehmen.

Alarmierende Zahlen

Hintergrund der Nationalen Diabetesstrategie ist der alarmierende Anstieg der Diabeteszahlen in Deutschland. Ca. 1.000 Menschen erkranken täglich in Deutschland an Diabetes. Diabetes verursacht jährlich 180.000 Todesfälle, zurzeit gibt es 7,5 Millionen Betroffene, im Jahr 2040 könnten dies über 12 Millionen sein. Die Kosten für das Gesundheitssystem: 21 Milliarden Euro. Die WHO und die International Diabetes Federation sprechen von einer Diabetes-Pandemie. Deutschland steht im europäischen Vergleich an 2. Stelle.

Strategie oder Strategie light?

Angesichts der hohen Zahlen an Diabetes Erkrankter wird von Verbänden wie der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG) betont, wie dringlich und zeitnah Maßnahmen zur Vorbeugung und Eindämmung von Diabetes ergriffen werden müssten. Die Kernforderungen der "Nationalen Diabetesstrategie" aber seien zu zahm und machten aus einer Nationalen Strategie eine "Strategie light", so der Mediensprecher der DDG, Baptist Gallwitz. Er ist ehemaliger Präsident der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG) und stellvertretender Direktor an der Abteilung Diabetologie, Endokrinologie und Nephrologie der Universität Tübingen. In fast allen Punkten blieben die Forderungen der "nationalen Diabetesstrategie" unverbindlich und brächten keinen Schritt voran:

"Es gibt keine messbaren Ziele, bis wann man was genau erreicht haben will, und das macht es so schwierig."

Prof. Baptist Gallwitz

Seine Gesellschaft fordere beispielsweise, dass nicht nur Appelle an die Lebensmittelindustrie gesandt würden. Bisher beinhaltet die "Nationale Diabetesstrategie" nur die mit der Lebensmittelbranche vereinbarte freiwillige 15-prozentige Zuckerreduktion in Kinderlebensmitteln bis 2025. Zu fordern aber sei eine Besteuerung von Lebensmitteln durch die Mehrwertsteuer, die abgestuft ist, so Prof. Gallwitz:

"Bei der zum Beispiel gesunde Lebensmittel wie Gemüse und bestimmte kalorienarme Grundnahrungsmittel keine Mehrwertsteuer haben, andere Lebensmittel eben einen erniedrigten Steuersatz. Und dass die Fertigprodukte, die ungünstig hochkalorisch sind, also viel Salz, viel Zucker und viel Fett enthalten, dann gerade mit einem höheren Mehrwertsteuersatz von 16 beziehungsweise 19 Prozent besteuert werden, dazu Soft Drinks und süße Getränke mit 25 Prozent."

Prof. Baptist Gallwitz

Statt Empfehlungen müsste es in einer echten Strategie vorgeschriebene Ernährungsstandards für Kitas und Schulen geben. Lebensmittelwerbung, die sich direkt an Kinder richtet, sei darüber hinaus komplett zu verbieten. Hier weise die "Nationale Diabetesstrategie" Leerstellen auf. Prof. Gallwitz empfiehlt den Blick auf Nationale Strategien anderer Länder:

"In Großbritannien hat man die gesüßten Getränke besteuert. Das hat dann zu einer Änderung von Rezepturen geführt und auch zu einem Rückgang des Verbrauchs an hochgezuckertes Getränken. Mexiko, Chile, haben hier auch gute Wege gefunden."

Prof. Baptist Gallwitz

Mangelnde Zusammenarbeit verschiedener beteiligter Ministerien und die starke Lobby der Lebensmittelindustrie verhindern aber aus der Sicht der DDG immer wieder, dass klar definierte Präventionsziele umgesetzt werden könnten, und wirkten einer echten Strategie entgegen.

Perspektiven der "Nationalen Diabetesstrategie"

In einem Punkt ist die "Nationale Diabetesstrategie" eindeutig und bindend: Es wird eine gesetzliche Änderung des Bundessozialgesetzbuches geben, die Adipositas als Krankheit anerkennt. Dazu wird der Gemeinsame Bundesausschuss damit beauftragt, in den nächsten zwei Jahren ein Disease-Management-Programm für die Behandlung der Adipositas einzurichten. "Aber trotzdem: Dieser Schritt kommt ein bisschen spät!", moniert Prof. Baptist Gallwitz.

Die "Nationale Diabetesstrategie" fordert eine größere Gewichtung von Lehre, Aus- und Weiterbildung. Aber man müsse auch hier aufpassen, so der Diabetologe, damit nicht zu spät zu kommen:

"Wir sehen nämlich auch mit großer Sorge, dass im vergangenen Jahrzehnt leider sehr viele Lehrstühle für klinische Diabetologie an den Universitäten nicht nachbesetzt wurden und wir derzeit an den 30 medizinischen Fakultäten leider nur acht Lehrstühle haben. Das muss sich ändern, damit genug ärztliches aber auch anderes medizinisches Personal kompetent in Diabetes ausgebildet werden kann, damit wir hier nicht in ein Versorgungsproblem geraten. Wir wissen, dass zum Beispiel bei den niedergelassen Diabetologen im Jahr 2017 das Durchschnittsalter Mitte 50 war. Das heißt also, wir laufen hier in ein Generationenproblem hinein."

Prof. Baptist Gallwitz

In der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG) bringt man die Bundestagsdebatte über die "Nationale Diabetesstrategie" mit dem Corona-Jahr 2020 in Verbindung. Dieses habe sich auch auf dem Umgang mit dieser Strategie ausgewirkt:

Diabetesstrategie vor Corona "hinten runtergefallen"

"Man hat im Juli im Bundestag, ich sage mal, unter sehr großem Zeitdruck und auch vielleicht nicht ganz so hoher Priorität das Thema behandelt. Es ist nun quasi ein bisschen vor Corona hinten runtergefallen. Das ist ein schrecklicher Kollateralschaden." Prof. Baptist Gallwitz

Es gelte, eine Strategie für die Strategie zu entwickeln, sagt der Mediensprecher der DDG:

"Ich habe Hoffnungmit Blick auf die Bundestagswahl im nächsten Jahr, dass man noch mal von gesundheitspolitischer Seite aus sogenannte Wahlprüfsteine aufstellt und sozusagen klarmacht, welche Partei hat welche konkreten Vorschläge und wie kann man das dann verbindlicher in die Diabetes-Strategie implementieren. Wir brauchen einen politischen Willen mit konkretem und verbindlichem Rahmen, um die Versorgung besser steuern zu können und das Gesundheitswesen in Zukunft nicht zu überlasten."

Prof. Baptist Gallwitz


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