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Wenn Antrieb und Freude fehlen Depressive Erschöpfung in Krisenzeiten

Eine Depression kann sich in sehr unterschiedlichen Symptomen und Verhaltensweisen äußern. Manche Patientinnen und Patienten fühlen sich innerlich unruhig und rastlos, andere wiederum sind mit einer bleiernen Erschöpfung und Antriebslosigkeit konfrontiert. Depressive Erschöpfung ist also eines von vielen Gesichtern der Depression.

Von: Susanne Dietrich

Stand: 11.04.2022

Ein Mann sitzt in Kauerhaltung vor einem Fenster. Man sieht nur Schatten und Konturen. Offensichtlich ist der Mann geknickt oder depressiv. | Bild: dpa-Bildfunk/Sina Schuldt

Eine Erschöpfungsdepression kann verschiedene Ursachen haben – neben einer genetischen Vorbelastung können das bestimmte Persönlichkeitsmerkmale, einschneidende Erfahrungen oder familiäre Umstände sein. Aber gerade auch gesamtgesellschaftliche Krisen wie die Corona-Pandemie oder der Krieg in der Ukraine können neben anderen Faktoren dazu beitragen, dass sich eine depressive Erschöpfung entwickelt.

Experte:

Prof. Dr. Reinhart Schüppel, Chefarzt der Johannesbadklinik Furth im Wald, Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie sowie Facharzt für Innere Medizin, Sozialmedizin und Naturheilverfahren

Erschöpfung kennt jeder Mensch in der einen oder anderen Form. Wer eine längere Wanderung oder eine Wohnungsrenovierung hinter sich hat, fühlt sich müde und erholungsbedürftig. Menschen mit einer depressiven Erschöpfung erleben jedoch eine tiefe Abgeschlagenheit, ohne dass es dafür einen offensichtlichen Grund geben würde.

"Eine depressive Erschöpfung ist eine ausgeprägte Form der Depression, in der man insbesondere den Zugang zu seiner eigenen Energie verloren hat. Das heißt: Dieses Ausgelaugt-Sein, das Einfach-Nicht-Mehr-Können zeigt sich ohne eine vorangegangene Anstrengung. Häufig fühlen sich Betroffene schuldig, weil sie eben keine Bergtour gemacht haben und trotzdem völlig kraftlos sind."

Prof. Dr. Reinhart Schüppel

Ob es sich um eine vorübergehende Niedergeschlagenheit oder um eine Depression mit Krankheitswert handelt, hängt von Anzahl und Ausprägung der Symptome ab. Bei einer Erschöpfungsdepression leiden Patientinnen und Patienten vor allen Dingen unter Antriebs- und Freudlosigkeit. Hinzu kommt die depressive Stimmung. Zusätzlich können sich weitere Symptome wie Grübeln, Selbstvorwürfe, Schlafstörungen, verminderter beziehungsweise verstärkter Appetit oder Zukunftsängste einstellen. Allerdings spricht man erst dann von einer Depression, wenn diese Symptome mindestens zwei Wochen lang anhalten.

Einem Burnout-Zustand geht zumeist eine längerfristige Verausgabung voraus. Neben einer ausgeprägten Erschöpfung berichtet ein Großteil der Burnout-Betroffenen zwar auch von einer verminderten Lebensfreue, allerdings handelt es sich häufig nicht um eine derart tiefsitzende Freudlosigkeit wie bei Menschen mit einer depressiven Erschöpfung. Außerdem findet man beim Burnout in typischen Fällen das Gefühl, (beruflich) unwirksam zu sein sowie eine Distanz zu früher gern ausgeübten Aktivitäten.

"Bei Patientinnen und Patienten mit einer Erschöpfungsdepression betrifft die Freudlosigkeit das gesamte Leben. Die reduzierte Lebensfreude bei Burnout-Betroffenen ist dagegen oft auf einen bestimmten Auslöser bezogen – und das ist wiederum sehr häufig die Arbeit."

Prof. Dr. Reinhart Schüppel

Seit Beginn der Covid-19-Pandemie haben psychische Erkrankungen grundsätzlich zugenommen. Die Zahl der depressiven Störungen hat sich in dieser Zeit um etwa ein Viertel erhöht. Für diesen Anstieg gibt es aus der Sicht von Fachleuten vor allem drei Erklärungsansätze.

"Die erste Erklärung ist, dass es dem Virus möglicherweise gelingt, ins Gehirn einzudringen und dort Veränderungen anzustoßen – diese sind jedoch noch nicht abschließend erforscht. Die zweite Erklärung wäre, dass die Erkrankung selbst einen Menschen derart beansprucht, etwa wegen einer Intensivbehandlung, dass das tiefe Spuren hinterlässt. Und die dritte Erklärung sind die Umstände der Pandemie, also beispielsweise die Einschränkung der Sozialkontakte oder die Isolation."

Prof. Dr. Reinhart Schüppel

Eine Erschöpfungsdepression entwickelt sich oftmals schleichend, häufig über mehrere Wochen oder Monate. Viele Betroffene ziehen sich mehr und mehr zurück und reduzieren sukzessive ihre Aktivitäten. Dabei kann es sein, dass ihnen die eigene Antriebslosigkeit anfangs kaum bewusst ist, sondern sie von Familienmitgliedern oder Freunden angesprochen werden, warum sie immer passiver werden und kaum noch Freude zeigen.

"In der Erschöpfungsdepression ist die Energie in Form von Sorgen und Grübeln oft irgendwo anders geparkt – und dann hat man für das basale Leben nicht mehr genügend Kraft. Lebensnotwendige Aufgaben wie Einkaufen oder die Pflege eines Angehörigen können Betroffene allerdings oft noch lange Zeit aufrechterhalten. Von Hobbys oder ehrenamtlichen Tätigkeiten ziehen sie sich dagegen meist relativ schnell zurück."

Prof. Dr. Reinhart Schüppel

Ob man unter krisenhaften Umständen psychische Probleme wie eine Erschöpfungsdepression entwickelt, hängt mit vielen möglichen Einflussfaktoren zusammen. Ein Schlüsselbegriff in diesem Zusammenhang ist der Kontrollverlust.

"Am Beispiel der Corona-Pandemie zeigt sich deutlich: Das Virus ist unsichtbar, wir haben keinen unmittelbaren Einfluss darauf. Wäre es so groß wie ein Tischtennisball, könnten wir diesen Ball einfach zurückschlagen. Kontrollverlust und das Gefühl, ausgeliefert zu sein sind für viele Menschen zentrale Einstiegsfaktoren in psychische Probleme."

Prof. Dr. Reinhart Schüppel

Davon sind Frauen häufiger betroffen als Männer. Besonders anfällig sind zudem Menschen, die bereits vor der Krise psychische Schwierigkeiten hatten sowie Personen, die viel mit sich alleine ausmachen und wenig Austausch mit anderen Menschen pflegen. Außerdem kann das Alter eine Rolle spielen.

"Überraschenderweise sind viele ältere Menschen besser durch die Pandemie gekommen als die Jüngeren. Es ist gut durch Studien belegt, dass grade die jungen Erwachsenen während der Pandemie gelitten haben – wahrscheinlich, weil die Einschränkungen für sie besonders gravierend waren."

Prof. Dr. Reinhart Schüppel

Manche Menschen verfügen über eine starke psychische Widerstandskraft und lassen sich von krisenhaften Umständen kaum erschüttern. Diese Fähigkeit, schwierige Zeiten psychisch relativ unbeschadet durchzustehen, wird auch Resilienz genannt. Resiliente Personen können in Krisenzeiten auf persönliche Ressourcen zurückgreifen, also auf Fähigkeiten oder Hobbys, aus denen sie Kraft schöpfen. Auch wenn man selbst nicht von vornherein zu diesen Menschen zählt, kann man sich von ihnen inspirieren lassen.

"Viele Menschen haben in der Corona-Zeit Fähigkeiten und Interessen entdeckt und aktiviert, die ihnen vielleicht nicht oder nicht mehr bewusst waren. Das hat ihnen dabei geholfen, diese Krise zu überstehen. In Familien wurde beispielsweise mehr gespielt, manche haben das Joggen wiederentdeckt, andere Freude in der Gartenarbeit gefunden."

Prof. Dr. Reinhart Schüppel

Gerade in Krisenzeiten ist es hilfreich, möglichst früh mit angenehmen Tätigkeiten zu beginnen, um gar nicht erst in einen allzu passiven Zustand zu verfallen. Dabei wirkt sich nicht nur die Freude am Tun positiv aus, sondern auch das Gefühl, selbst etwas anpacken und gestalten zu können.

"Ich habe über Videosprechstunden viele Patientinnen und Patienten durch Isolation und Quarantäne begleiten dürfen. Und da sind mir einige aufgefallen, die haben sich wirklich fallen lassen. Für sie war es schwierig, überhaupt erst von der Couch aufzustehen. Dabei sind Aktivitäten wie Sport, Zeichnen oder Musizieren auch deswegen so wertvoll, weil sie einen vom Grübeln abhalten."

Prof. Dr. Reinhart Schüppel

Vielen Menschen, die sich antriebslos und betrübt fühlen, geht es dann besser, wenn sie sich mit anderen über die eigenen Empfindungen und Gedanken austauschen können. Die Erfahrung, dass es anderen ähnlich geht, kann gerade in herausfordernden Lebensphasen sehr erleichternd sein.

"Und genau dieser Austausch war ja auch die Schwierigkeit während der Lockdowns. Nur wenn man merkt, dass man damit nicht allein ist, fällt eine große Sorge weg: Nämlich die, dass ich irgendeinen Fehler hätte, weil ich seltsame Gedanken habe."

Prof. Dr. Reinhart Schüppel

Studien haben außerdem gezeigt, dass es den meisten Menschen guttut, sich für andere einzusetzen. Helfen hilft auch den Helfern. Das gilt vor allem auch dann, wenn man sich mit Gleichgesinnten zusammenschließt. Wer sich angesichts des Krieges in der Ukraine ohnmächtig fühlt, könnte sich beispielsweise für Geflüchtete engagieren.

"Allerdings sollte man aufpassen, dass diejenigen, denen geholfen wird, möglichst schnell auch Beiträge leisten und Dinge in die Hand nehmen können – etwa indem sie selbst kochen oder Lebensmittel einkaufen. So können auch sie aus der Hilflosigkeit und dem Kontrollverlust leichter herausfinden."

Prof. Dr. Reinhart Schüppel

Während der Pandemie-Lockdowns und der Corona-Einschränkungen haben viele Menschen eine klare Tagesstruktur verloren. Der Weg zur Arbeit, das Treffen mit Freunden, der Besuch im Fitnessstudio – all das fiel plötzlich weg. Dabei geben Regelmäßigkeit und Verlässlichkeit gerade in Krisenzeiten Halt und Stabilität.

"Darum halte ich es in schwierigen Phasen für sehr wichtig, dem Tag oder der Woche eine Struktur zu geben. Das tut dem Gehirn sehr gut. Wenn man also früher immer an einem bestimmten Tag den Einkauf erledigt oder eine Freundin getroffen hat, sollte man das möglichst beibehalten – auch dann, wenn es vielleicht nur online stattfinden kann."

Prof. Dr. Reinhart Schüppel

Menschen, die in Krisenzeiten wenig Aktivität und Regelmäßigkeit erleben, schlafen möglicherweise schlecht – was wiederum zu Gefühlen von Antriebslosigkeit und Niedergeschlagenheit führen kann. Rituale wie Spazieren-Gehen, Musik-Hören oder das Lesen eines Gedichts vor dem Einschlafen können helfen, den Tag zu strukturieren und die Nachtruhe zu verbessern.

Die Covid-19-Pandemie ist noch nicht überwunden, schon ist man mit der nächsten Krise, dem Krieg in der Ukraine, konfrontiert. Vom Klimawandel und dem Hunger auf der Welt ganz zu schweigen. Bei einigen Menschen kann das Gefühl einer Krisenkumulation zu einer düsteren Weltsicht führen.

"Hier kann die Medienkommunikation leider auch ein Verstärkermechanismus sein. Zahlen und Fakten zu veröffentlichen, ist richtig und wichtig. Aber dadurch kann eine Art Katastrophenbild entstehen, das bei manchen Menschen schwere depressive Phasen auslösen kann, weil sie eben die Hoffnung verlieren."

Prof. Dr. Reinhart Schüppel

In herausfordernden Phasen kann es deswegen sinnvoll sein, sich den eigenen Medienkonsum gut einzuteilen. Nicht jeder und jedem tut es beispielsweise gut, unmittelbar vor dem Einschlafen noch die Abendnachrichten oder eine Talkshow im Fernsehen anzuschauen.

"Ich glaube, das eigene Wohlbefinden hängt sehr stark davon ab, wie viel Medieninformation man überhaupt zulässt. Meine Empfehlung ist eine feste Dosis: Sich vielleicht in der Früh für zehn Minuten und abends noch einmal für eine Stunde mit den aktuellen Nachrichten zu beschäftigen. Aber dann ist es genug."

Prof. Dr. Reinhart Schüppel

Wer mit dem Leid der Menschen in der Ukraine oder in anderen Krisengebieten der Welt konfrontiert ist, fragt sich möglicherweise, ob er oder sie selbst noch Genuss und Lebensfreude empfinden darf. Vielleicht hat man sogar ein schlechtes Gewissen, wenn es einem gerade besonders gut geht.

"Das ist ein sehr heikles Thema. Da wäre meine Antwort: Wenn man etwas aus innerer Freude tut und gleichzeitig auch anderen hilft, dann finde ich das eine wunderbare Sache. Man muss ja keine Riesenparty feiern, während andernorts Bomben einschlagen. Aber wenn wir jetzt schon sozusagen alle die Flügel hängen lassen, können wir weder der Verantwortung insgesamt noch der Verantwortung für unsere unmittelbare Umgebung gerecht werden. Auch in Krisenzeiten noch Freude zu erleben, halte ich für eine wichtige Ressource."

Prof. Dr. Reinhart Schüppel

Wenn sich der eigene Zustand durch Selbsthilfestrategien wie den Austausch mit anderen und wohltuende Aktivitäten nicht verbessert, kann professionelle Unterstützung einen Weg aus der Depression weisen.

"Der Vorteil eines externen Helfers ist, dass er nicht in die – zum Teil konfliktbeladene – Vorgeschichte des depressiven Menschen verwickelt ist. Er kann die Situation von einem neutralen Standpunkt aus einordnen und gezielter Empfehlungen geben als Angehörige, Freunde oder Nachbarn das können."

Prof. Dr. Reinhart Schüppel

Ob auf eine professionelle Beratung eine längerfristige Psychotherapie – möglicherweise in Kombination mit einer medikamentösen Behandlung – folgen sollte, muss individuell abgewogen werden.

"Manche sind sehr zurückhaltend, was Medikamente anbelangt. Aber ein Antidepressivum kann auch ein Segen sein. Man könnte ein solches Präparat als eine Art Gipsschiene sehen: Es stellt etwas ruhig, gibt einem aber vielleicht auch wieder Kraft, weil ein Teil des Gehirns nicht mehr überbeansprucht wird."

Prof. Dr. Reinhart Schüppel

Im Rahmen einer professionellen Behandlung gilt es dann auch herauszufinden, ob eine Depression sich auf die persönliche Situation oder auf die allgemeine Weltlage bezieht. In beiden Fällen kann eine Psychotherapie dabei helfen, an sogenannten automatischen Kognitionen zu arbeiten, also an den Annahmen, die jemand über sich und die Welt hat, ohne sie zu hinterfragen.

"Wir können manches, aber nicht alles in der Welt verändern. Aber während einer Psychotherapie kann man lernen, eine andere Perspektive einzunehmen. Auch in schwierigen Zeiten gibt es Lichtblicke. Das soll nicht heißen, dass wir Menschen dazu bringen wollen, Missstände zu akzeptieren. Überhaupt nicht. Aber wir möchten ihnen dabei helfen, die Welt und sich selbst differenziert wahrzunehmen – mit den vorhandenen Schwierigkeiten, aber auch mit den Möglichkeiten und Chancen, die zumindest in den allermeisten Situationen zu finden sind."

Prof. Dr. Reinhart Schüppel

Erste Anlaufstellen für Betroffene können der Hausarzt oder eine Beratungsstelle sein. Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten, Ärztinnen und Ärzte, aber auch Kliniken, sozialpsychiatrische Dienste und Beratungsstellen begleiten Betroffene langfristig. Auch der Austausch in Selbsthilfegruppen ist für viele Patientinnen und Patienten hilfreich. Im Akutfall ist die Telefonseelsorge rund um die Uhr erreichbar unter:
0800 1110-111 oder 08001110-222.