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Deutsche Meisterschaft 1922 Das Endspiel ohne Ende zwischen Hamburg und Nürnberg

1922 ist das Jahr, in dem es keinen deutschen Fußballmeister gab. Dafür ein Endspiel ohne Ende. Ganze 294 Minuten spielten der Club und der Hamburger SV in zwei Partien gegeneinander – ohne Sieger. Wie es dazu kam? Ein Rückblick.

Von: Thibaud Schremser

Stand: 27.10.2022 | Archiv

Der 18. Juni 1922, im Berliner Grunewaldstadion: Es ist das Endspiel um die Deutsche Meisterschaft 1922.

"Die Ausgangslage ist ganz spannend, denn es tritt der Titelverteidiger vom Jahr 1921 und 1920, der 1. FC Nürnberg, gegen eine bis dato, sage ich jetzt mal, unbekannte Mannschaft an – den erst im Jahr 1919 aus drei Hamburger Vereinen fusionierten Hamburger Sportverein. Die Stimmung ist sehr aufgeheizt. Die Berliner Fans sind sehr auf der Seite der Hamburger. Warum auch immer. Jedenfalls waren sehr wenige Nürnberger vor Ort. Die Zugfahrt war auch sehr teuer nach Berlin damals."

Bernd Siegler, Vereinshistoriker 1. FC Nürnberg

Otto Harder vom HSV in Aktion zwischen Ludwig Breuel, Heinrich Träg und Luitpold Popp. Emil Köpplinger vom FCN köpft den Ball.

Der 1. FC Nürnberg setzt sich trotzdem durch gegen Buhrufe und Pfiffe – und gegen den Hamburger SV. Fünf Minuten vor Schluss steht es 2:1 für Nürnberg. Der Meister aus den letzten beiden Jahren scheint auch dieses Mal nicht zu schlagen zu sein. Um die deutsche Meisterschaft wurde damals nicht nach Tabelle gespielt, sondern im K.O.-System, das wir heute beim DFB-Pokal haben. Es geht also nur um dieses eine Spiel.

Aber dann, in der 86. Minute flankt der Hamburger Linksaußen Rave in den Nürnberger Strafraum. Da stehen gleich drei seiner Kollegen – Flohr, Breuel und Harder – und irgendwie gelingt es einem von ihnen, den Ball ins Nürnberger Tor zu befördern. Man weiß nicht einmal genau, wer von ihnen den Fuß dran hatte. Jedenfalls steht es 2:2 – Hamburg ist wieder im Rennen. Noch vier Minuten sind regulär zu spielen. Aber Regeln sind lückenhaft, Auslegungssache. Es wird noch so viel länger dauern als vier Minuten, bis die Meisterschaft 1922 entschieden wird.

"Es war sehr heiß an diesem Tag. Es hat kurz vorher geregnet. Es war so eine richtige Waschküchenatmosphäre. Also die Spieler waren nassgeschwitzt und sie waren schon nach 90 Minuten ziemlich am Ende, weil es ein ziemlicher Abnutzungskampf war."

Bernd Siegler, Vereinshistoriker 1. FC Nürnberg

Und der geht jetzt weiter. Spielerisch unterscheiden sich die beiden Clubs stark: Der Newcomer HSV geht hart ran und setzt auf lange Pässe zum bulligen Stürmer Harder. Husarenstil wird das genannt. Der zweifache Meister Club kombiniert technisch versierter. Kurzpassspiel. Großer Körpereinsatz auf beiden Seiten.

Nach 189 Minuten endet die erste Final-Partie – ohne Sieger

Und die Regeln für die Verlängerung waren damals andere. Wenn es nach zweimal 15 Minuten immer noch unentschieden stand, dann gab es kein Elfmeterschießen, sondern es wurde eine erneute Verlängerung gespielt und es wurde quasi so lange um 15 Minuten verlängert, bis das Spiel entschieden war. Endlos.

"Daher kommt auch der Begriff des endlosen Endspiels. Nach zweimal 15 Minuten stand es immer noch 2:2 und der Schiedsrichter hat dann wieder zur Verlängerung angepfiffen und am Ende war es so, dass die Spieler K.O. waren, dass der Schiedsrichter auch schon K.O. war, der ist dann schon mal zusammengebrochen und war dehydriert, musste dann was trinken. Und die Zuschauer haben fast nichts mehr gesehen, weil es dann dunkel geworden ist. Man hat damals noch kein Flutlicht gehabt. Es gibt Äußerungen von Zuschauern, dass sie den Ball gar nicht mehr verfolgen konnten und dass sie gar nicht mehr wussten, wer jetzt im Angriff ist. Und das Ende vom Lied ist: In der 189. Minute, also nach drei Stunden und neun Minuten pfeift dann Schiedsrichter Peco Bauwens die Partie endgültig ab. Alle sind froh, dass es endgültig vorbei ist, sacken zusammen und sind fix und fertig. Spielstand: 2:2. Immer noch."

Bernd Siegler, Vereinshistoriker 1. FC Nürnberg

Sieben Wochen später: das Spiel wird wiederholt

Die Clubspieler bei der Pause auf dem Spielfeld im Leipziger VfB-Stadion, das wegen des überfüllten Platzes niemand verlassen konnte.

Da bekommt der Begriff K.O.-Runde eine ganz neue Bedeutung. Zu Ende ist jetzt zwar das Spiel, aber nicht der Kampf um die Meisterschaft. Es muss ja einen Sieger geben, oder? Deshalb wird ein Wiederholungsspiel angesetzt. Aber bis dahin vergeht einige Zeit. Erst am 6. August ist es soweit, sieben Wochen später. Gespielt wird diesmal im damals ganz neuen Stadion des VfB Leipzig.

"Der VfB hat wahrscheinlich um die 40.000 Karten gedruckt, laut alten Quellen. Allerdings gab es damals schon Fälscher, die massenweise falsche Karten in Umlauf brachten."

André Göhre, Historiker

Verschiedene Quellen sprechen von 50.000 bis sogar 85.000 Zuschauern, die hier anwesend gewesen sein sollen.

"Die saßen dann wirklich bis auf der Aschenbahn, bis knapp zum Spielfeldrand."

Bernd Siegler, Vereinshistoriker 1. FC Nürnberg

Es gab keine Wellenbrecher, es gab keine Zäune, die Leute standen eng an eng, teilweise auch huckepack auf den Bäumen ringsherum. Und diese Atmosphäre hat sich dann auch auf das Spiel übertragen.

"Das Spiel läuft noch engagierter ab als das vorherige, allerdings war es wirklich eine körperliche Auseinandersetzung, die am Rande der Schlägerei oder der absichtlichen Verletzung des Gegenspielers läuft. Schiedsrichter Bauwens hat sich dann gezwungen gesehen, relativ schnell einzugreifen. Schon in der 18. Minute fliegt der Club-Mittelstürmer Willy Böß vom Feld. Also er hat, er soll gegen einen am Boden liegenden Hamburger nachgetreten haben. Das heißt Nürnberg spielt zu zehnt gegen elf Hamburger in einem Wiederholungsspiel, das körperlich sehr engagiert geführt wird."

Bernd Siegler, Vereinshistoriker 1. FC Nürnberg  

Die zweite Partie endet nach 105 Minuten – wieder unentschieden

Das ist diplomatisch ausgedrückt. Der Nürnberger Abwehrspieler Kugler wird schwer am Knie verletzt, Auswechslungen gibt es 1922 aber noch nicht. Er steht also seiner Mannschaft humpelnd bei so gut er kann, bis er nach 90 Minuten dann doch aufgeben muss. Der Spielstand am Ende der regulären Spielzeit: 1:1 unentschieden, schon wieder. Es geht also weiter. Der Club zu neunt, der HSV zu elft. In der 100. Minute wird der Clubberer Träg wegen eines Fouls vom Platz gestellt. Nürnberg spielt nur noch zu acht. In der 105. Minute, die erste Verlängerungshälfte ist gerade abgepfiffen worden, kippt der FCN-Spieler Popp einfach um.

"Schiedsrichter Peco Bauwens schaut nach, ob es noch geht und Popp sagt 'Ne, also keine Chance mehr.' Und eine Regel gibt es doch noch: dass mindestens acht Feldspieler auf dem Platz stehen müssen, sonst muss das Spiel abgebrochen werden und als dann Popp nochmal zusammenbricht, ist Nürnberg nach zwei Verletzungen und zwei Platzverweisen nur noch zu siebt und der Schiedsrichter bricht das Spiel dann ab."

Bernd Siegler, Vereinshistoriker 1. FC Nürnberg

Die Meisterschaft gilt zunächst als nicht ausgetragen …

Da könnte man jetzt denken: klare Sache. Der HSV ist Meister. Aber so einfach ist das nicht. Es gibt keine klare Regel dazu. Könnte ja auch sein, dass eine Mannschaft nur durch Verletzung dezimiert wird, da wäre es ja unfair sie zum Verlierer zu erklären. Der Club argumentiert also: So lange wir nicht geschlagen sind, gelten wir weiter als Meister. Wir behalten einfach den Titel vom letzten Jahr, bis es einen neuen Meister gibt. Hamburg sieht das natürlich anders. Und die Gremien des deutschen Fußballs sind ratlos, tagen immer wieder, entscheiden mal so, mal so. Und plötzlich heißt es: die Meisterschaft 1922 gilt als nicht ausgetragen.

"Was natürlich völliger Blödsinn ist, weil natürlich hat man sie ausgetragen."

Bernd Siegler, Vereinshistoriker 1. FC Nürnberg

… dann gilt der HSV als Meister …

Und irgendwem – man weiß gar nicht mehr wem – fällt dann auf: Ein Spielabbruch darf nur während des Spiels passieren. Der Schiedsrichter hat aber in Leipzig in der Pause zwischen den Verlängerungen abgebrochen. Was bedeutet das jetzt? Wer ist denn nun Deutscher Meister? Es dauert auf den Tag genau fünf Monate, vom ersten Spiel an gerechnet, bis ein endgültiges Ergebnis feststeht. Am 16. November 1922 tagt das höchste Gremium.

"Der DFB-Bundestag spricht dann mit 53 zu 35 Delegiertenstimmen dem HSV den Meistertitel zu."

Bernd Siegler, Vereinshistoriker 1. FC Nürnberg

Aber: Das ist nicht das endgültige Ergebnis.

"Denn wenige Minuten später steht ein HSV-Vorstandsmitglied auf und gibt eine historische Erklärung ab. Der Wortlaut lautet so: 'Der HSV erhebt keinen Anspruch auf die diesjährige Meisterschaft.'"

Bernd Siegler, Vereinshistoriker 1. FC Nürnberg

… am Ende steht schließlich fest: 1922 gibt es keinen Fußballmeister

Es gibt also keinen Meister 1922. Warum Hamburg verzichtet, versteht damals niemand und man kann sich das auch heute noch fragen. Warum?

"Das ist eine gute Frage. Das ist auch auf Hamburger Seite nicht so richtig geklärt, aber ich glaube, das war ein Ausdruck der Fairness."

Bernd Siegler, Vereinshistoriker 1. FC Nürnberg

Am Ende sind es wahrscheinlich beim Sport und anderswo nicht Regeln, die am wichtigsten sind, sondern Fairness. Menschliche Fairness.


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