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Das Corona-Tagebuch Die Krise zeigt, wie dekadent die Integrationsdebatte der letzten Jahre war

Jahrelang haben wir uns an Integrationsdebatten abgearbeitet und dabei Menschen ausgegrenzt. Jetzt wird in vielen Bereichen ganz offensichtlich: diese Menschen halten längst unsere Gesellschaft zusammen.

Von: Nabila Abdel Aziz

Stand: 02.04.2020 | Archiv

Nabila Abdel Aziz | Bild: Nabila Abdel Aziz

Meine Freundin Maryam ist Apothekerin. Sie trägt Hijab. Eigentlich sollte das keine Rolle spielen. Das tut es im Deutschland des Jahres 2020 aber leider immer noch. In diesem Tagebucheintrag deswegen auch. Denn seit der Corona-Krise ist Maryams Arbeit eine andere. Fast nichts ist mehr wie vorher. Sie muss immer wieder erklären, warum es keine Gesichtsmasken mehr gibt, warum Händewaschen ein besserer Schutz ist als Desinfektionsmittel und warum bisher keine Medikamente gegen Covid-19 existieren. Sie muss jeden Tag Dutzende verängstigte Kund*innen beruhigen und manchmal zurechtweisen, wenn sie laut und ausfallend werden. Sie muss Menschen abweisen, wenn nach Panikkäufen keine Schmerzmittel mehr vorrätig sind.

Durch die Arbeit mit den Kund*innen bringt sie sich jeden Tag selbst in Gefahr. In diesen Tagen ist Maryam, wie so viele andere Menschen, die im Gesundheitsbereich arbeiten, oft am Ende ihrer Kräfte. Aber Maryam ist nicht nur erschöpft – sie ist auch wütend: 

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Liebes Deutschland, meine Heimat,

ich habe eine Bitte. Wenn wir diese Krise gemeinsam gemeistert haben, möchte ich NIE WIEDER hören, dass ich, mein Migrationshintergrund, mein Hijab oder meine Religion nicht zu Dir gehören. Lass uns gemeinsam die Arbeitsbedingungen im Gesundheitssektor und care work optimieren. Ich helfe Dir gerne!

Bussi
Deine Staatsbürgerin an der Gesundheitsfront für Dich

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Diesen Text postet sie am 20. März auf Facebook. Seitdem Maryam elf ist, trägt sie ein Kopftuch. Genauso lange schon erträgt sie es, regelmäßig beleidigt und auch immer wieder angespuckt und körperlich bedroht zu werden. Seit Jahren erträgt sie, dass ihre Zugehörigkeit zu diesem Land, ihre Intelligenz und ihre Menschlichkeit in Talkshows, Leitartikeln und Bestsellern in Frage gestellt werden – genauso wie die von Millionen anderen Menschen, die nicht weiß sind oder deren Eltern oder Großeltern nicht aus Deutschland kommen.

Einwanderung wurde mal "die Mutter aller Probleme" genannt

Über Jahre hinweg hat fast kein Thema die deutsche Politik und Medienlandschaft so bewegt, wie die Integration der „anderen“ – seien sie muslimisch, geflüchtet oder Sinti und Roma. Die Corona-Krise zeigt uns jetzt, wie unverhältnismäßig viel Zeit, Energie und Emotionen wir in diese Debatten gesteckt haben. Sie offenbart die Dekadenz eines der reichsten und sichersten Länder der Welt, das sich von weniger als zwei Prozent Geflüchteten existenziell bedroht sieht. Das mehr Angst vor Männern mit Namen wie Ali, Serdar, oder Kwame und vor Frauen mit Hijab hat als vor Problemen, die uns alle betreffen: der Klimawandel, die Altersarmut oder das Totsparen unserer Gesundheits- und Pflegesysteme. Einwanderung war „die Mutter aller Probleme“. Mit Corona sind diese Zeiten vorbei.

Das Virus hat uns mit Wucht und Schnelligkeit klargemacht, dass es nicht Geflüchtete sind, die uns bedrohen. Und dass es stattdessen andere, tatsächliche Herausforderungen gibt. Plötzlich wirken Kategorien wie Glaube oder Herkunft, an denen wir uns so lange abgearbeitet haben, geradezu lächerlich sekundär: Weil das Virus keinen Unterschied macht, es trifft uns alle – und, wie kitschig das auch klingt, weil es sich nur bekämpfen lässt, wenn alle an einem Strang ziehen. Manche Rechte sind in ihrer Hetze gegen Geflüchtete oder Angela Merkel leiser geworden seit Beginn der Krise. Denn diese Hetze erscheint in diesen Tagen so unerträglich fehl am Platz.

Es klafft eine gefährliche Lücke

Und die Krise tut noch etwas: Sie offenbart wie viele der Menschen, die lange ausgegrenzt wurden, längst zu denen zählen, die wir jetzt „systemrelevant“ nennen. Sie arbeiten in Supermärkten, in der Pflege, in Krankenhäusern, Kindergärten und Schulen. Sie halten, genau wie meine Freundin Maryam, das Gesundheitssystem zusammen. Adil El Tayar, Amged El-Harwani, Habib Zaidi – das sind die Namen der ersten drei Ärzte, die in Großbritannien im Kampf gegen das Virus starben. Dass Menschen auszugrenzen Gesellschaften nicht besser macht, zeigt sich dort jetzt mit erschreckender Deutlichkeit. In den letzten Jahren haben Tausende Ärzte und Pflegekräfte aus Polen, Italien und Portugal das Land verlassen. Wegen des Brexits hatten sie sich nicht mehr willkommen gefühlt. Jetzt klafft dort eine große, gefährliche Lücke.

In Deutschland hatten im Jahr 2014 mehr als acht Prozent der Ärzt*innen keine deutsche Staatsbürgerschaft. Heute sind das vermutlich noch viele mehr, von Menschen in anderen medizinischen Berufen ganz zu schweigen. Genauso wie von denen mit einem sogenannten Migrationshintergrund. Uns alle durch so eine Krise zu bringen, geht nur gemeinsam, sagt Maryam. Sie hofft, dass wir das auch nach der Krise nicht vergessen haben.


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