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Das Corona-Tagebuch Das permanente Gefühl, irgendetwas vergessen zu haben

Das Corona Virus fordert uns im Alltag heraus. Vom Multitasking bis hin zu Gedanken über den Tod. Mit welcher Strategie kriegen wir die Tage in den Griff, fragt sich Katja Huber.

Von: Katja Huber

Stand: 24.03.2020 | Archiv

Katja Huber | Bild: Verena Kathrein

Letztens noch, vermutlich vor nicht mal zwei Wochen lag ich, wie so oft, mitten in der Nacht wach, und habe mir, wie so oft, einen Kopf über gigantisch große Dinge gemacht. Dinge, die bei Tageslicht betrachtet nicht mal eine kleine Sache sind. Gedanken darüber, wie tausend Dinge, die am nächsten Tag unbedingt erledigt werden müssen, jemals erledigt werden können. Die Antwort, die sich wie immer nachts nicht finden ließ, obwohl sie wie immer nahe lag, lautete, wie immer morgens, bei Tageslicht: "Eins nach dem anderen".

Das Gefühl, etwas vergessen zu haben

Mit "Eins nach dem anderen" versuche ich auch jetzt meine Tage in den Griff zu kriegen, in denen sich Einschätzungen, Erkenntnisse, Strategien und vor allem Meinungen ins Bewusstsein live-tickern und stündlich relativieren. Fragen stellen sich viele, aber wir, die in unserem Falle größte gemeinsame bewegungsberechtigte Einheit Vater-Mutter-Kind, unsere Familien und Freunde, das Arbeitsumfeld sind 24/7 damit beschäftigt, den Alltag neu zu organisieren: telefonieren, priorisieren, täglich Drostens Corona-Update studieren und dabei nicht die Einschätzungen weiterer Experten aus den Augen verlieren, pädagogisch wertvolle Freizeitangebote generieren, video-konferieren, Luft schnappen - nicht überschnappen. Skype-Dates statt Spielplatz, besonnen sein,  jetzt aber mal mindestens einen Gang runterschalten und dabei den Wegfall sämtlicher Kulturveranstaltungen mit der wöchentlichen Lektüre von Minimum fünf Romanwälzern und dem täglichen Konsum von Podcasts, On-Demand-Konzerten und -Theaterstücken kompensieren, sich endlich endlich endlich mal aufs Wesentliche konzentrieren. Sich, wo es geht, direkt, wo es nicht geht, online engagieren. Die Sorgen anderer ernst nehmen, Zuversicht vermitteln. Dasein für andere bzw. das Nicht-Für-Andere-Dasein-Können auffangen, Verantwortung übernehmen, Verantwortung delegieren, priorisieren. Und: das permanente Gefühl, irgendetwas vergessen zu haben. Etwas, das sich nicht erledigen, nicht abhaken lässt, und das trotzdem am Ende des Tages größer und bedeutender sein könnte als sämtliche in schlaflosen Nächten gekritzelte To-Do-Listen zusammen.

Gedanken über den Tod fallen schwerer.

Letztens, vermutlich oder ziemlich sicher vorletzte und letzte Nacht, lag ich wach und habe an den Tod gedacht. Irgendwann werden alle, die gerade lieben auf dieser Welt, die geliebt werden oder die es verdient haben, geliebt zu werden, tot sein. Das ist selbstverständlich, das ist natürlich, das muss so sein. Eine Erkenntnis, zu der mir meine vor Jahrzehnten jungen Eltern verholfen haben und die der Tod geliebter Menschen immer wieder aufs Neue bestätigt. Eine Erkenntnis, die ich, besonders im letzten Jahr, versucht habe, meiner Tochter zu vermitteln. Und doch fällt es mir gerade jetzt schwer, die Sterblichkeit von Geschwistern, Eltern, Kindern, Freunden, Geliebten zu akzeptieren.

Könnte der lungenkranke Darth Vader Corona trotzen?

Vor einigen Tagen, nachdem ich vermutlich mal wieder zu besorgt und zu streng mit meiner Mutter telefoniert habe, hat meine Tochter gefragt: "Ist es wirklich so schlimm, zur Risikogruppe zu gehören?" Sie hat mir klarzumachen versucht, dass es zumindest für ihre Oma nicht schlimm sein kann. Weil die nicht wirklich etwas hat, sondern einfach nur alt ist und schlecht sieht. Dann hat sie mir geraten, mir doch mal Darth Vader anzuschauen. Der keine Beine hat und noch dazu schlimm lungenkrank ist. Der trotzdem immer weiter lebt und der in ihrem Universum auch Corona trotzen wird. Ich habe gelacht, "Wahrscheinlich hast du recht!" gesagt. Mit Sicherheit steckt keine Strategie dahinter, wenn meine Tochter ihre über alles geliebte Großmutter in unmittelbaren Bezug zum Fürsten der Finsternis setzt. Trotz Jahrzehnten mehr an Lebens- und Todeserfahrung kann auch ich dieser Nächte auf keine Strategie zurückgreifen. Das Akzeptieren des Unvermeidlichen scheint mir genauso inakzeptabel wie ein Eins-nach-dem-anderen.

Haben wir die Hilfs-, Schutz- und Fürsorgebedürftigen vergessen?

Am überwachen Verantwortung fordernden Tag blicke ich den Tatsachen ins Gesicht, nachts ist es für mich noch eindeutig ein Science Fiction Film, in dem die Bürger via Lautsprecheransagen dazu aufgefordert werden, zuhause zu bleiben, in denen Kranke, Schwache und Alte vom Rest der Gesellschaft isoliert werden, in denen sich Sterbende teilweise nicht von ihren Liebsten verabschieden können und Trauernde nicht von ihren Toten. In der Realität sollte kein Tag vergehen, an dem die Hilfs-, die Schutz- und die Fürsorgebedürftigen nicht Hilfe, Schutz und Fürsorge bekommen. Das war auch schon "vor Corona" in großen Teilen der Welt NICHT der Fall. Das beunruhigende Gefühl, irgendetwas Wesentliches vergessen zu haben, könnte schlicht und einfach daher rühren, dass diese Erkenntnis, sich "vor Corona" einfach besser ausblenden ließ.

Katja Huber ist Autorin und Hörspiel-Redakteurin bei Bayern 2.


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