Bayern 2

Bayerische Passionen Das Strawanzen

Ein "Strawanzer" ist dem ursprünglichen Wortsinn nach ein "außerhalb Wandelnder", man könnte auch sagen: die Personifikation des Abwegigen, Hintersinnigen, Um-die Ecke-denkerischen ... und damit ein prägendes Element der bayerischen Mentalitätsgeschichte.

Von: Thomas Kernert

Stand: 25.06.2022 | Archiv

Stra - wan - zen - ist ein dreisilbiges, extrem assoziationsreiches Wort:

Bei "Stra"- könnte man sich beispielsweise an die Stratocaster, ein legendäres amerikanisches Kultgerät, erinnern, über das Jimi Hendrixs Finger in Woodstock nach Lust und Laune umhervagabundierten.

Mit "Wan" bzw. "Wanz" könnte man ein Kleinsttierchen assoziieren, das weltweit unterwegs ist. Einige Arten bewohnen sogar als einzige Insekten den offenen Ozean.

"Zen" klingt mächtig nach Zen-Buddhismus, könnte aber genauso gut mit den zehn Fingern des Menschen zu tun haben. Mehr hat er nicht, mehr braucht er nicht, die zehn reichen, um sie überall im Spiel zu haben. ... Oder um eine zehnfingrige Wanze auf der Stratocaster von Jimi Hendrix zu bilden.

"Strawanzen" sind meist zweibeinig

Deutschlands populärste Wanzenarten

Es gibt Bettwanzen, Baumwanzen, Raubwanzen und Strawanzen. Wie die Wanzen frequentieren sie die unterschiedlichsten Biotope und Lebensräume, treiben sich herum, streunen, stromern, strolchen.

Ihr Glück finden sie nicht auf der breiten Hauptstraße, sondern meist dort, wo Ecken, enge Gassen und andere Um- und Abwegigkeiten in ein komplexes Dickicht führen. 

"Ein roher, liederlicher Mensch"

Ist ein "Strawanzer" ein liederlicher, arbeitsscheuer Mensch?

Das Deutsche Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm scheint den Strawanzer nicht besonders zu mögen. Es definiert ihn als ...

"… einen arbeitsscheuen Menschen, der keinen bestimmten Erwerbszweig hat, sich viel auf der Gasse herumtreibt, besonders auch als Begleiter zweideutiger Frauenspersonen; ein roher, liederlicher Mensch."

Das Iterativum "umherstravanzen" scheint für die Grimm-Brüder den semantischen Kern dieses Verbums zu bilden. "Strawanzen" bedeutet für sie deshalb in erster Linie ...

"... herumbummeln, müßig herumstreichen“.

Zur Beruhigung: Niemand strawanzt permanent!

Auf die Balance kommt's an!

Selbst die faulste Socke muss sich phasenweise um ihren Lebensunterhalt bemühen, selbst der größte Spinner muss von Zeit zu Zeit auch stringent und berechenbar handeln. Andernfalls lauert hinter irgendeiner Ecke schnell die Klapse.

Die meisten Strawanzer und Strawanzerinnen können sehr wohl zwischen Arbeit und Freizeit unterscheiden, können sich je nachdem am Riemen reißen oder die Zügel locker halten. Je virtuoser man diese beiden "Seinszustände" zu koordinieren vermag, desto weniger Reibungsverluste entstehen. Mäßiges aber regelmäßiges Strawanzen ist gesünder als jeder Multivitaminsaft!

Der gerade Weg führt ans Ziel, der krumme vielleicht ins Paradies!

So geradlinig und schroff die Bayern coram publico auch sein mögen, in ihrem Innersten bevorzugen sie oft die Gang- und Denkart des vermeintlich ziellosen Strawanzens. Sie ahnen: Ein gerader Weg führt ans Ziel, ein krummer vielleicht, vielleicht, vielleicht … ins Paradies.

Thomas Kernert, Experte für verschwurbeltes Denken, versuchte sich am fast Unmöglichen: an einer Kartographie des Strawanzens.