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75. Jahrestag der Zerstörung Würzburgs Trauern und Erinnern, Mahnen und Versöhnen

Am Abend des 16. März 1945 legen britische Bomber Würzburg in Schutt und Asche. 75 Jahre später werden zur Angriffszeit wieder Kirchenglocken in der ganzen Stadt läuten. Neben dem Erinnern rückt aber auch die historische Einordnung immer mehr in den Fokus.

Von: Jochen Wobser

Stand: 10.03.2020 | Archiv

Der Angriff am 16. März 1945 begann um 21.20 Uhr und endete um 21.40 Uhr. Der Untergang des alten Würzburg dauerte nur 20 Minuten. 20 Minuten dauert auch das jährliche Mahnläuten. Vor dem Würzburger Dom und weit in die angrenzenden Straßen hinein sammeln sich tausende Menschen im Abenddunkel. Ihre Kerzen bilden ein Lichtermeer. Die Stadt steht zusammen und steht still. In Gedenken an ihre Zerstörung vor mittlerweile 75 Jahren.

1.000 Tonnen Bomben in 20 Minuten

Der 16. März 1945 war ein wolkenloser Frühlingstag. Ideal für einen Bombenangriff. Im Südosten Englands starteten am frühen Abend Maschinen der Elitestaffel "Bomber Group No. 5" in Richtung Würzburg: elf "Mosquito"-Jagdbomber und 225 schwere Nachtbomber vom Typ "Lancaster". Etwa 90 Minuten vor dem Angriff tönten in Würzburg die Alarmsirenen. Dann leuchteten Magnesium-Leuchtkörper den Zielraum taghell aus: die sogenannten Christbäume. Kurz darauf fielen fast 1.000 Tonnen Bomben auf die Stadt. Mehr als 3.000 Menschen starben in dieser Nacht. Die Innenstadt wurde zu 90 Prozent zerstört. Was blieb, waren sieben unversehrte Häuser und mehr als zwei Millionen Kubikmeter Schutt.

75 Jahre später hat Würzburg wieder eine lebendige Innenstadt

Würzburg, 75 Jahre später. Aus der Trümmerlandschaft ist wieder eine lebendige Innenstadt geworden. Aber das architektonische Gesamtkunstwerk des alten Würzburg ist für immer verschwunden. Zweckbauten der Nachkriegszeit dominieren das Stadtbild. Als Einzelstücke dazwischen zeugen rekonstruierte historische Gebäude von der einstigen Pracht. Der Grafeneckart mit seinem romanischen Turm zum Beispiel, der älteste Teil des Rathauses.  

Dokumentationsraum informiert über die Ereignisse des 16. März

Im Erdgeschoss des Grafeneckart informiert ein Dokumentationsraum über die Ereignisse um den 16. März. Der Raum mit gotischem Gewölbe ist nicht allzu groß. Kommen Gästeführer mit einer Gruppe, wird es eng. Denn auch für viele Würzburger ist der Raum ein regelmäßiger Anlaufpunkt. Seit einer Umgestaltung im Jahr 2011 informiert der Raum umfassend über die Ereignisse des 16. März. Ein Jahr zuvor hatte die Kulturwissenschaftlerin Bettina Keß im Auftrag der Stadt Würzburg mit dem "Dialog Erinnerungskultur" begonnen. Das Langzeitprojekt hat das Ziel, Formen und Orte des Erinnerns zu hinterfragen und zu erneuern. Orte wie den Dokumentationsraum im Grafeneckart.

"Zuvor war dieser Raum ganz dunkel und es war sehr stark von der Atmosphäre und auch von den Texten auf die Zerstörung und auf die Bombenangriffe Bezug genommen worden. Diese Idee der Vorgeschichte, dass die Zerstörung Würzburgs nicht ohne den Nationalsozialismus zu denken ist, das kam kaum vor. Also das ist auch etwas, was in Würzburg offen erst seit zehn Jahren richtig diskutiert und auch in den Kontext gesetzt wird. Das ist tatsächlich eher eine jüngere Entwicklung."

Bettina Keß, Kulturwissenschaftlerin

Erinnerungskultur: Erweiterung des Blickwinkels

Texte und Bilder berichten über die Zerstörung durch die britischen Bomber und den mühsamen Wiederaufbau in der Nachkriegszeit. Aber die Tafeln sparen nun auch die Vorgeschichte nicht mehr aus: das Treiben der Nationalsozialisten und die Bombenangriffe der deutschen Luftwaffe. Diese Erweiterung des Blickwinkels vollzog sich nicht ohne Widerstand. Im Würzburger Stadtrat wurde über Monate hinweg um die Gestaltung und Inhalte der Informationstafeln gerungen.

"Wo nochmal alle Argumentationen ausgetauscht wurden und auch so diese Ideen aufeinanderprallten, also diese Idee des einseitigen Opfer-Seins, Würzburg als Opfer der Kriegszerstörung, und das andere Würzburg, das sich auch der Schuld des Nationalsozialismus stellt und die Ereignisse auch in einen Kontext stellt."

Bettina Keß, Kulturwissenschaftlerin

Ein akustisches Geschichtsbuch für junge Hörer

Beim Würzburger "Dialog Erinnerungskultur" kommen auch junge Stimmen zu Wort. Im Rahmen eines Projekts am Matthias-Grünewald-Gymnasium haben sich zwölf Schülerinnen und Schüler mit der Zeit des Nationalsozialismus in Würzburg auseinandergesetzt – fast zwei Jahre lang, unterstützt von der Stadt. Die Schüler haben in Archiven recherchiert, Experten getroffen und Gespräche mit Zeitzeugen aufgenommen – zum Beispiel zum Bombenangriff vom 16. März 1945. Aus den Begegnungen sind verschiedene Hörstücke entstanden: Kapitel eines "akustischen Geschichtsbuchs", das die Zeitzeugen-Berichte für junge Hörer aufbereitet.

"Mein Name ist Valentine Leopold, geborene Stahl. Ich hab gelernt, von frühester Jugend auf, Augen aufzumachen und mit Ohren zu hören."

Valentine Leopold, Zeitzeugin

Valentine Leopold war 16 Jahre alt, als Würzburg bombardiert wurde. Sie war ein Teenager wie Juli Heubeck, die zusammen mit einer Mitschülerin die inzwischen hochbetagte Zeitzeugin für das Schulprojekt interviewt hat.

"Sie hat uns erstmal Tee gemacht und es war erst eine sehr lockere Stimmung. Aber dann hat sie angefangen, zu erzählen und es wurde immer bedrückender. Viel emotionaler, als wenn man das in einem Geschichtsbuch liest. Und es zeigt eben, dass es wirklich da war."

Juli Heubeck, Schülerin

"Mein Vater kommt herein und sagt: Heute ist Würzburg dran. Und das Flammenmeer war… das kann man nicht beschreiben. Und dann sagt er: Ich hätte jetzt eine Aufgabe für dich und da habe ich gesagt: Und was wäre das? Wir haben im Nachbarhaus eine Portion Leichen gefunden und wir möchten wissen, wer das ist. Und da zeigt er mir eine Stelle auf der Straße, war mit einem großen Tuch zugedeckt und da waren zwölf Leichen drunter. Und dann sagt er: Meinst, du kannst des? Und das, kann ich sagen, geht mir heute noch nach. Denn die Leichen waren nicht verbrannt, die waren erstickt. Das ist was Furchtbares."

Valentine Leopold, Zeitzeugin

"Das hatte ich noch nie vorher, dass ich mit jemandem so da drüber reden konnte. So einen tiefen Einblick in das Leben zu bekommen ist eine krasse Erfahrung, über die man berichten kann. Und es ist schade, dass es immer weniger Menschen gibt, die so direkt davon erzählen können und ich glaube, jeder, der noch die Möglichkeit hat, sollte das mal machen, dass er sich mit so einer Person unterhält."

Juli Heubeck, Schülerin

Immer weniger Zeitzeugen

Das Schwinden der Zeitzeugen stellt die Erinnerungskultur vor Herausforderungen: Wer sorgt künftig dafür, dass die konkreten Schrecken der Vergangenheit nicht zu abstrakt werden, um für junge Menschen nachvollziehbar zu sein? Wie kann verhindert werden, dass Geschichte verschwimmt? Solche Fragen beschäftigen auch Würzburgs Oberbürgermeister Christian Schuchardt – und er versteht sie als Auftrag.

"Dass wir immer mehr Anstrengungen unternehmen müssen, um tiefer zu schürfen, diese individuellen Schicksale herauszuarbeiten. Neben dem kollektiven Gedächtnis ist gerade dieses individuelle Gedenken von besonderer Bedeutung. Gerade dann, wenn die Erlebnisgeneration, die persönlich weitererzählen kann, gar nicht mehr da ist. Deswegen sind die einzelnen Namen am Denkmal des 16. März von so großer Bedeutung. Denn da findet ja so mancher Würzburger seinen eigenen Familiennamen. Es sind vor allem die Einzelschicksale, die ergreifen und ein Überdenken der eigenen Position beflügeln können."

Christian Schuchardt, Würzburgs Oberbürgermeister

Das Denkmal des 16. März vor dem Würzburger Hauptfriedhof ist ein von Bäumen umsäumter Gedenkhain. Im Zentrum ist eine Metallplatte in den Boden eingelassen. Das Werk des Bildhauers Fried Heuler zeigt einen Mann, eine Frau und zwei Kinder, überlebensgroß in Todesstarre. Ein Ort, der die Kulturwissenschaftlerin Bettina Keß anrührt.

"Also, wir stehen tatsächlich auf einem Massengrab. Man weiß zum Teil nicht ganz genau, wer hier eigentlich liegt. Sie sind namenlos bestattet worden in der Schnelle der Zeit. Man musste da eine Lösung finden. Es sind sicherlich viele Würzburgerinnen und Würzburger da drunter, wahrscheinlich viele Frauen und Kinder, aber auch alle Menschen, die halt noch in der Stadt waren zu der Zeit, das können auch Zwangsarbeiter gewesen sein, das können Flüchtlinge gewesen sein, die hier irgendwie durchkamen. Man weiß tatsächlich nicht genau, wer hier alles liegt."

Bettina Keß, Kulturwissenschaftlerin

Die 1954 errichtete Gedenkstätte wurde vor drei Jahren umgestaltet, behutsam und eindrücklich zugleich: Einige der etwa 3.000 namenlos Bestatteten haben ihre Namen zurückbekommen, wenn diese nachzuforschen waren. 1.563 Namen sind in Stelen aus Glas eingraviert. Die Stelen umrahmen das Denkmal in der Mitte.

Das Erinnern stellt sich der deutschen Verantwortung

Das Gedenken an den Jahrestagen der Zerstörung Würzburgs beginnt immer hier, am Massengrab der Toten des 16. März. Menschen legen Frühlingsblumen nieder, der Oberbürgermeister spricht. Das ist Tradition geworden, aber kein starres Ritual: Das Erinnern gilt inzwischen allen Opfern von Krieg und Gewalt – und es stellt sich der deutschen Verantwortung.

"Die Zerstörung Würzburgs war keine schicksalhafte Fügung. Sie war das Ergebnis, der menschenverachtenden Ideologie und der verbrecherischen Politik des NS-Regimes, das nicht davor zurückgeschreckt hatte, über Millionen von Leichen zu gehen."

Christian Schuchardt, Würzburgs Oberbürgermeister, in seiner Rede zum 70. Jahrestag

Weg der Versöhnung – mit einem Friedensbotschafter aus England

"Weg der Versöhnung" heißt der Marsch, der sich im Anschluss an das jährliche Totengedenken am Massengrab in Bewegung setzt. Eine Station ist die Versöhnungsglocke, die Kupfer aus Kriegsgranaten enthält. Dort wird jetzt, am 75. Jahrestag der Zerstörung, Christopher Cocksworth sprechen, der Bischof von Coventry. Die englische Stadt wurde am 14. November 1940 von deutschen Bombern zerstört. Auch die Kathedrale ging in Flammen auf. Schon beim Gedenken vor fünf Jahren war Christopher Cocksworth als Friedensbotschafter in Würzburg.

"Wir müssen Gott dafür danken, dass Menschen den langen Weg der Versöhnung nach Kriegsende eingeschlagen haben. Frieden in Europa ist ein großes Geschenk!"

Christopher Cocksworth, Bischof von Coventry

Das Notgefängnis – ein unbequemes Thema

Die Würzburger "Geschichtswerkstatt" ist ein Kreis aus Historikern und stadtgeschichtlich interessierten Bürgern. Seit den 1990er Jahren organisiert die "Geschichtswerkstatt" Ausstellungen, veröffentlicht Broschüren und arbeitet unbequeme Themen auf. Ein aktuelles Beispiel ist das sogenannte Notgefängnis in der Würzburger Friesstraße. Das ehemalige Notgefängnis im Stadtteil Frauenland wurde 1942 von der Geheimen Staatspolizei eingerichtet. Weil das bisherige Gefängnis in der Ottostraße überfüllt war, installierte die Gestapo ein Ausweichquartier in der Friesstraße, umzäunt mit doppeltem Stacheldraht und mit Baracken für die Häftlinge. Alexander Kraus von der Geschichtswerkstatt ist ein Experte für das Notgefängnis und die Schicksale der etwa 600 Inhaftierten.

"Es waren dann dort die Fremdarbeiter und Kriegsgefangenen eingesperrt, die sich in Würzburg etwas haben zuschulden kommen lassen. Die sind dort verhungert, sie sind an den Verletzungen gestorben, sie sind an Krankheiten gestorben, sie sind hingerichtet worden, aufgehängt worden. Es sind auch später nach dem Krieg in der Anatomie Leichen gefunden worden, die waren enthauptet. In dem Lager hat es also viele Tote gegeben."

Alexander Kraus, Geschichtswerkstatt

Aufarbeiten von verdrängten Kapiteln der Stadtgeschichte

Viele Jahre war das Notgefängnis ein verdrängtes Kapitel der Stadtgeschichte. Mit seinen Forschungen setzt sich Alexander Kraus für eine Aufarbeitung ein. Und auch für die Schüler, die sich am Matthias-Grünewald-Gymnasium mit der NS-Zeit in Würzburg beschäftigt haben, war der Historiker ein wichtiger Ansprechpartner. Eines der Hörstücke, die im Rahmen des Projekts entstanden sind, thematisiert das Notgefängnis. Und der Bezug zu den Jugendlichen ist ein ganz direkter. Denn das Gymnasium befindet sich auf dem Gelände, wo einst die Gefängnisbaracken standen und die Inhaftierten wegen nichtiger "Vergehen" dem Grauen ausgeliefert waren.

Neue Orte des Erinnerns

Die Arbeit an der Gedenkkultur in Würzburg bringt neue Orte des Erinnerns hervor. Einer besonders wichtiger entsteht derzeit am Hauptbahnhof: der "DenkOrt Deportationen 1941 bis 1945". 2.063 Juden aus ganz Unterfranken wurden von Würzburg aus in den Osten verschleppt. Vom Sammelpunkt an der Schrannenhalle mussten sie zum Güterbahnhof Aumühle marschieren, wo die Züge in die Vernichtungslager abfuhren. Nur 60 von ihnen überlebten den Holocaust.

"Es gibt ein historisches Foto von diesem Bahnhof Aumühle, sehr eindrucksvoll, wo man eigentlich die Menschen gar nicht mehr sieht, sondern in erster Linie die Züge und einen riesigen Haufen Gepäckstücke von Koffern, von zusammengerollten Matratzen, von Körben. Also wir wissen ja, dass die meisten mit diesen Gepäckstücken und mit ihrem Hab und Gut nichts mehr anfangen konnten, weil sie sofort oder in kurzer Zeit ermordet wurden. Das finde ich sehr eindrücklich und diese Idee, diese Gepäckstücke aufzugreifen, finde ich sehr gut."

Bettina Keß, Kulturwissenschaftlerin

Die Kulturwissenschaftlerin Bettina Keß begrüßt das Konzept für den neuen Denkort, das auf der beschriebenen Fotografie basiert. Auf einer Fläche von gut 200 Quadratmetern entstehen gerade Podeste für Koffer, Rücksäcke und Deckenbündel aus Metall: 109 Gepäckstücke für jede der 109 unterfränkischen Gemeinden, aus denen Juden deportiert wurden. Auch in diesen Gemeinden selbst wird jeweils ein Gepäckstück platziert und so überspannt das Denkmal die Region wie ein Netz.

Nicht aufhören zu erinnern

Wie das Vergessen verhindern? Wie die Erinnerung wachhalten in einer Zeit, in der wieder eine Schlussstrich-Mentalität um sich greift – auf offener politischer Bühne und in den Filterblasen sozialer Netzwerke?

"Erschreckend viele Kommentare: Warum soll man denn erinnern? Ich erinnere mich nur an Leute, die mir was bedeutet haben. Diese Schuldkultur nervt. Ich finde das erschreckend, wie das schon so langsam in Vergessenheit gerät. Man kann nicht genug erinnern."

Juli Heubeck, Schülerin

Vielleicht kann das eine Antwort sein: nicht aufhören damit. Nicht aufhören zu erinnern, zu mahnen und zu versöhnen. Und vielleicht ist dieses Signal das entscheidende, das vom Gedenken an die Zerstörung Würzburgs ausgeht. Dass die Alten nicht alleine zusammenstehen, wenn die Würzburger jenem Abend gedenken, an dem die Bomben fielen. Sondern gemeinsam mit jungen Menschen wie Juli.


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