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Essstörungen Bulimie und Magersucht bei Erwachsenen

Über 500.000 Menschen in Deutschland leiden an Essstörungen wie Bulimie und Magersucht. Der Leidensweg der Erkrankten ist lang. Bis sie geheilt sind, dauert es meist viele Jahre. Doch eine Behandlung ist unbedingt notwendig. Essstörungen können sonst zu schweren körperlichen Schäden und sogar zum Tod führen. Gesundheit! zeigt, wo Betroffene Hilfe finden.

Von: Monika Hippold

Stand: 24.06.2019

25 Jahre lang hat Cornelia Firsching nicht richtig gegessen: Tagsüber gab es nichts, nachts stopfte sie alles in sich hinein, was sie sich vorher verboten hatte - und erbrach es kurz darauf wieder. Sie litt an Magersucht und Bulimie, auch bekannt als Anorexia nervosa und Bulimia nervosa.

Magersucht: Der Wunsch dünn zu sein

Gefährliche Kombination: Magersucht und exzessiver Sport

Magersüchtige wollen dünn sein, sie essen nur sehr wenig oder nichts und magern mit der Zeit ab. Bis hin zu extremem Untergewicht. Bulimie-Kranke haben regelmäßig Essanfälle und übergeben sich danach. Man nennt die Krankheit auch Ess-Brechsucht.

"Das Gefühl, Hunger zu haben, war normal für mich. Das Tückische an der Krankheit ist, dass man sich Durchlavieren kann. Weil gerade Magersucht ganz lange irgendwie sozial anerkannt ist: Man ist schlank. Und man erzählt ja niemanden, wie es innen aussieht. Welches Leid da ist. Und diese Heimlichkeit immer. Ich habe mich belogen, ich habe alle anderen belogen. Mein Sport und mein Einkaufen waren das Wichtigste. Man selber kommt sich nach einem Fressanfall am Widerlichsten vor. Ich glaube schon, dass sich da auch so ein Selbsthass entwickelt."

Cornelia Firsching

Magersucht und Bulimie: auch viele Erwachsene betroffen

Magersucht: Oft beginnen die Probleme mit dem Wunsch, dünner zu werden.

Laut der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung leiden offiziell drei bis fünf Prozent der Menschen in Deutschland an Bulimie oder Magersucht. Doch die Dunkelziffer ist hoch. Frauen trifft es häufiger als Männer. Magersucht beginnt meist in der Jugend. So zeigt rund ein Fünftel der Kinder und Jugendlichen in Deutschland von elf bis siebzehn Jahren Symptome von Essstörungen. Laut der kassenärztlichen Bundesvereinigung wird auch bei vielen Erwachsenen die Diagnose Anorexie gestellt. 2017 betraf das bei den gesetzlich Versicherten knapp 40.000 Frauen und 2.500 Männer von 20 Jahren an bis ins hohe Alter. Bulimie beginnt meist bei jungen Erwachsenen.

Magersucht kann tödlich enden

Oft dauert es viele Jahre, bis die Betroffenen geheilt sind. Wenn sie überhaupt geheilt werden, sagt Dr. Matthias Nörtemann, Leiter der Klinik für Psychosomatische Medizin in Harlaching.

"Die unbehandelte Magersucht oder auch die schwere Magersucht kann in zehn bis 15 Prozent der Fälle tödlich enden. Das ist verglichen mit anderen Erkrankungen eine wirklich extrem gefährliche Erkrankung."

Dr. med Matthias Nörtemann, Leiter der Klinik für Psychosomatische Medizin, München Klinik Harlaching

Nur drei bis vier Stunden Schlaf

Cornelia Firsching ist heute 47 Jahre alt. Krank wurde sie mit Anfang 20. Zeitweise wog sie nur noch 46 Kilogramm, bei einer Körpergröße von 1,69 Metern. Sie wollte unbedingt dünn sein, trieb zum unregelmäßigen Essen noch exzessiv Sport. Laufen war ihre große Leidenschaft: 13 Mal lief sie einen Marathon, zweimal gewann sie sogar den Marathon in München. Sie forderte ihrem Körper extreme Leistungen ab - und arbeitete zudem noch erfolgreich als Anwältin.

"Ganz viele Tage sahen so aus: Um fünf Uhr aufstehen, Sport, Einkaufen, Arbeit, Fitnessstudio. Und dann habe ich meinen Fress-Anfall durchgezogen bis nachts um zwei, halb drei. Bin wieder um fünf Uhr aufgestanden - und dann ging dasselbe Spiel von vorne los. Am Wochenende gab es zwar weniger Arbeit, dafür noch mehr Sport und noch mehr Einkaufen. Auf lange Sicht habe ich bestimmt 15 Jahre nicht mehr als drei bis vier Stunden pro Nacht geschlafen. Wenn ich das jetzt so sage, dann frage ich mich, wie ich das überlebt habe."

Cornelia Firsching

Brüchige Knochen durch Unterernährung

Ihr Körper zog die Notbremse, vor fünf Jahren: Beim Laufen erlitt sie einen Ermüdungsbruch im Fuß. Ihr Arzt attestierte: Osteoporose.

"Mein Körper hat keine Mineralstoffe bekommen, kein Kalzium. Mein Knochenstatus war der einer alten Frau. Und da habe ich dann tatsächlich ein bisschen Angst gekriegt, Angst um mein Leben. Wenn der Arzt sagt, ihre Knochen schauen aus wie die einer alten Frau, denkt man schon: Ist es das alles wert, was ich da betreibe?"

Cornelia Firsching

Dass die Knochen brüchig werden, ist eine häufige Folge von Untergewicht, erklärt Dr. Katrin Jakobi. Sie behandelt seit über zehn Jahren Patienten mit Essstörungen an der München Klinik. Die Mangelernährung kann noch weitere schlimme Folgen haben:

"Bei zu starkem Untergewicht bleibt die Menstruation oft aus. Dann hat man mit Herzrhythmusstörungen zu kämpfen , die sehr gefährlich sein können. Bei langjähriger Anorexie schrumpfen die Organe etwas. Bei sehr chronischen Verläufen kann es auch zu Nierenversagen kommen. Außerdem ist die Abwehr geschwächt, die weißen Blutkörperchen sind reduziert. Das bedeutet, dass man gegenüber Infekten viel anfälliger ist. Wenn dann eine Grippewelle kommt, können Betroffene daran sterben."

Dr. med. Katrin Jakobi, Oberärztin, Klinik für Psychosomatische Medizin, München Klinik Harlaching

Essstörungen: Beratungsstellen bieten Hilfe

Beratungsstellen können helfen: Bei Bulimie und Anorexie sind Therapien unbedingt notwendig.

Wer Hilfe sucht, kann sich an Beratungsstellen wenden. Das tat auch Cornelia Firsching. Ursache für ihre Erkrankung war der Wunsch, über sich selbst zu bestimmen, die Suche nach Anerkennung, gepaart mit einem verschobenen Schönheitsideal, Perfektionismus und Kontrollzwang. Die Psychologen und Sozialpädagogen in der Beratungsstelle Cinderella e.V. in München halfen ihr dabei, einen Therapeuten und eine Ernährungsberaterin zu finden. Die Berater bieten außerdem Hilfe per Telefon, E-Mail und Chat an, sie organisieren Selbsthilfegruppen für jede Altersgruppe und vermitteln in ambulante und stationäre Therapien.

"Es kommt vor, dass die Klienten erzählen, sie haben bisher mit keinen Angehörigen darüber gesprochen und sprechen ihr Problem bei uns das erste Mal aus. Es ist wirklich wichtig, dass - egal in welchem Alter man ist - man sich immer Hilfe holen darf."

Amelie Zollner, Psychologin, Cinderella e.V. Beratungsstelle, München

Online-Programm "Salut" hilft bei Bulimie

Die Berater empfehlen Menschen mit Bulimie zusätzlich das Online-Programm Salut, das Ansätze aus der Verhaltenstherapie beinhaltet.

"Man kann sich die Zeit flexibel einteilen und das Programm von Zuhause aus bearbeiten. Ein Teil davon ist, dass man ein Tagebuch führt. Dass man dokumentiert, habe ich regelmäßige Mahlzeiten zu mir genommen. Und dass man ein Verständnis dafür entwickeln kann, womit hängen diese Ess-Anfälle, das Abführen, Erbrechen zusammen. Man lernt zu verstehen: Wofür braucht meine Psyche die Bulimie?"

Amelie Zollner, Psychologin, Cinderella e.V. Beratungsstelle, München

Magersucht: Auch Online-Selbsthilfeangebote sind sinnvoll.

Einmal pro Woche tauschen sich die Teilnehmer zusätzlich per Mail mit einem Coach aus. Doch das Internet kann für Ess-Gestörte auch zur Bedrohung werden. Diese Erfahrung hat Eva gemacht. Ihre Ess-Störung begann vor zehn Jahren, mit 17. Sie war gerade von Zuhause ausgezogen. Den Stress verarbeitete sie mit Brechanfällen.

"Es ist so ein Teufelskreis geworden. Dann habe ich mich teilweise 15 Mal am Tag erbrochen. Und es kann gar nicht sein, dass der Mensch da noch was drin hat. Aber ich wollte einfach irgendwas loswerden."

Eva

Magersucht und Bulimie: Gefährliche Online-Foren

Gefährliche Internetforen: Menschen mit Essstörungen setzten sich gegenseitig unter Druck.

Online holte sie sich Abnehm-Infos, in sogenannten Pro-Ana-Foren und Chatgruppen. Ana steht dabei für Anorexie, Magersucht. Erkrankte geben sich dort Tipps, wie sie immer weiter abmagern können. Teilweise fordern sie in den Foren einen Body-Mass-Index, kurz BMI, von 13. Der BMI berechnet sich aus dem Gewicht geteilt durch die Körpergröße in Metern im Quadrat. Normalgewichtige haben einen BMI zwischen 18,5 und 25. Bei einem BMI von 13 besteht akute Lebensgefahr.

"Das ist eines der furchtbarsten Dinge, die es auf der Welt gibt. Man macht sich dort aufs Übelste fertig. Wenn man sagt, ich habe gerade einen Apfel gegessen, heißt es: Kotz ihn sofort aus und mach als Strafe drei Liegestütze!"

Eva

Der Jugendmedienschutz hat viele dieser Seiten schließen lassen. Doch es entstehen immer wieder neue.

Betreuung in Wohngruppen

Vier Jahre lang blieb Evas Erkrankung unentdeckt. Bis sie sich einer Lehrerin anvertraute. Sie half ihr, Kliniken anzuschreiben. Eva bekam Hilfe und zog zusammen mit anderen betroffenen Frauen in eine intensivtherapeutische Wohngruppe.

"Die Klientinnen kommen oft aus Kliniken, wo sie sehr enge Strukturen erleben. Sie sind oft damit überfordert, wenn sie wieder in die Selbstständigkeit entlassen werden. So sind wir zwischengeschaltet zwischen der Klinik und der Selbstständigkeit."

Alicia Krüger, Sozialpädagogin, ANAD, München

Magersucht: Der Weg zurück in ein normales Leben dauert lange.

Sozialpädagogen, Ernährungs- und Psychotherapeuten betreuen die Frauen in den Wohngruppen. Es gibt Einzeltherapie, Gruppenangebote und weitere therapeutische Maßnahmen wie kreatives Schreiben, Maltherapie, gemeinsames Kochen und Essen.

Weg aus der Magersucht: Wieder normal essen lernen

"Das gemeinsame Kochen ist wichtig, damit man wieder ein Gespür dafür bekommt, wie eine normale Mahlzeit aussieht. Dass man schwierige Lebensmittel wieder integriert, die man vielleicht lange Zeit nicht gegessen hat und auch an seinem symptomatischen Essverhalten arbeiten kann. Dass man in einem angemessenen Tempo isst, nicht im Essen pickt oder sich nur das Gemüse raussortiert."

Corinna Kinne, Ernährungstherapeutin, ANAD, München

Von der Wohngruppe zog Eva vor rund eineinhalb Jahren ins betreute Einzelwohnen. Das heißt: Sie wohnt alleine, tauscht sich aber einmal pro Woche mit einer Sozialpädagogin aus. Ab und zu erlebt sie noch Durchhänger-Phasen. Doch ihr geht es besser, sie ist symptomfrei.

"In Bezug auf Essen bin ich viel entspannter und lockerer geworden. Ich mache mir nicht mehr viel Gedanken um Kalorien. Und Essen muss nicht mehr unbedingt was Besonderes sein, ich freue mich jetzt auch über ein Butterbrot. Ich esse, was mein Körper braucht."

Eva

Therapieziel: Die Identität wiederfinden

Mehr als jede zweite Essstörung wird laut der Statistiken erfolgreich behandelt -  ambulant oder stationär. Soll der Erfolg dauerhaft sein, ist es aber wichtig, nicht nur am Essverhalten zu arbeiten:

"Wenn man einige Jahre eine Essstörung hatte, dann ist ein Teil unserer Arbeit hier in der Klinik, mit den Patienten wieder herauszufinden, was sie interessiert, wer sie sind, was sie ausmacht - neben der Essstörung. Weil die Essstörung vorher so einen Raum einnimmt, zur Identität wird, so dass eigentlich nichts mehr übrig bleibt vom sonstigen Leben."

Dr. med. Katrin Jakobi, Oberärztin, Klinik für Psychosomatische Medizin, München Klinik Harlaching

Professionelle Hilfe suchen

Doch auch eine behandelte Essstörung kann wieder auftreten, vor allem, wenn im Leben neue Herausforderungen anstehen und zum Beispiel große berufliche oder private Veränderungen eintreten. Dr. Jakobi rät Angehörigen oder Freunden dann:

"Wenn man merkt, dass die Essstörung wieder auftritt, sollte man das unbedingt ansprechen. Am wichtigsten ist, dass man dazu rät, sich professionelle Hilfe zu holen, sich an eine Beratungsstelle zu wenden oder wieder zum Therapeuten Kontakt aufzunehmen. Professionelle Hilfe ist notwendig. Man schafft es als Privatperson nicht, jemanden aus der Essstörung rauszuholen."

Dr. med. Katrin Jakobi, Oberärztin, Klinik für Psychosomatische Medizin, München Klinik Harlaching

Leben ohne Magersucht: Statistisch werden mehr als die Hälfte der Patienten von ihren Essstörungen geheilt.

Auch für Cornelia Firsching ist es ein langer Weg raus aus der Essstörung. Das Laufen hat sie reduziert. Sie geht zur Einzeltherapie, war bei der Gruppentherapie, einer psychologischen Heilpraktikerin, der Ernährungsberatung. Sie macht Entspannungs- und Achtsamkeitsübungen. Seit einem dreiviertel Jahr hat sie keine Bulimie-Anfälle mehr. Rund 14 Kilo hat sie seitdem zugenommen.

"Das sind immer wieder so tückische Momente. Als ich jetzt die Sachen vom letzten Sommer angezogen habe und festgestellt habe, sie sind alle zu eng. Da schlucke ich dann schon nochmal. Und da kommt dieses Dünnsein-Gefühl noch mal irgendwie hoch. Aber dann denke ich mir, Hey was ich dafür alles jetzt Schönes erlebt habe. Nein, ich will nie wieder zurück."

Cornelia Firsching

In ihre alten Klamotten will sie nie mehr reinpassen. Vor kurzem hat sie ihren ersten Burger gegessen und mittlerweile kann sie auch Süßes wie Kuchen oder Kaiserschmarrn genießen. Für sie ein völlig neues Lebensgefühl. Und das will sie weitergeben: Sie engagiert sich in Selbsthilfegruppen und gibt anderen Betroffenen Tipps, wie sie aus der Essstörung herauskommen.


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