Meinung Rassismus beginnt nicht erst bei Mord

Nach dem gewaltsamen Tod von George Floyd zeigen viele Menschen in Deutschland mit dem Finger auf die USA. Aber der Rassismus in anderen Ländern sollte nicht den Blick auf die Probleme bei uns versperren, findet unsere Autorin Shahrzad Osterer.

Von: Shahrzad Osterer

Stand: 05.06.2020 | Archiv

Demonstranten der Black Lives Matter Bewegung in Lille | Bild: picture-alliance/dpa

Neben den Nachrichten über die Straßenproteste in den USA, die mittlerweile auch andere Länder erreicht haben, waren meine Social-Media-Timelines in den letzten Tagen plötzlich voll mit schwarzen Kacheln. Unter dem Hashtag #Blackouttuesday haben tausende Menschen ein schwarzes Bild gepostet, um an den gewaltsamen Tod von George Floyd während eines Polizeieinsatzes zu erinnern. #Blackouttuesday kommt ursprünglich aus der Musik-Industrie: Die beteiligten Medien wollten einen Tag lang die Arbeit niederlegen, George Floyd würdigen und sich der schwarzen Community und ihren Anliegen widmen – eine Idee, die sehr schnell auch die sozialen Medien erreicht hat. Noch nie hatten so viele Leute aus meiner Social-Media-Blase bei einer Aktion mitgemacht. 

Viele haben unter den schwarzen Bildern ihre Solidarität ausgedrückt, über ihre Trauer und Wut gesprochen, viele schrieben ein paar Zeilen gegen Rassismus und einige beließen es einfach bei dem Hashtag. Einige haben auch lange Texte über das Rassismus-Problem in den USA geschrieben, als ob es an deren Grenzen aufhören würde. Ein schwarzer Journalistenkollege hat über Nachrichten von Freunden berichtet, die ihn gefragt haben, ob er froh sei, nicht in den USA zu leben, sondern in Europa!

Wir müssen nicht in die USA schauen, um Rassismus zu finden

Beim Lesen dieser Zeilen und bei den schwarzen Kacheln in meiner Timeline musste ich - und muss immer noch - an Oury Jalloh aus Sierra Leone und Amad Ahmad aus Syrien denken, die in ihren deutschen Gefängnis-Zellen verbrannt sind.

Ich muss an Hanau, Halle und München denken. Ich muss an brennende Flüchtlingsheime denken und Menschen, die im Mittelmeer ertrinken. 

Ich muss an den Sonntag vor zwei Wochen denken, wo ich eine Freundin nach langer Zeit wieder getroffen habe. Wir saßen auf ihrem Balkon in der ersten Etage, haben Tee getrunken und geredet, als wir Blaulicht und dann ein Polizeiauto gesehen haben, das auf die Straße bog und hinter einem roten Kleinwagen hielt. Gleich vier Polizist*innen sind mit schnellen großen Schritten, Hand an der Waffe, auf den schwarzen Fahrer zugegangen, um am Ende festzustellen, dass er ein harmloser Essens-Lieferant ist, der gerade einfach seinen Job macht. Entsetzt schauten wir diese Szene zu und wunderten uns über die Gelassenheit des jungen Mannes. Vermutlich ist es nicht das erste Mal, dass er so etwas erlebt.

Ich musste dran denken, dass die Polizei einen Freund aus dem Iran und mich am Kölner Hauptbahnhof grundlos angehalten und kontrolliert hat; daran, dass ich regelmäßig sehe, wie andere People of Color auf der Straße und an Bahnhöfen von der Polizei durchsucht werden.

Ich muss an meine schwarze Freundin denken, die immer an der österreichischen Grenze angehalten wird, während die meisten anderen Autos durchfahren dürfen.

Ich muss daran denken, wie ich Jahr für Jahr bei der Ausländerbehörde schriftlich versichern musste, dass ich noch nie eine Bombe gebaut und auch keiner terroristischen Organisation angehöre. Ich erinnere mich, wie meine Sachbearbeiterin meinen iranischen Pass aufblättert, auf mein Bild mit dem obligatorischen Kopftuch zeigt und sagt, dass sie es mir nicht glaube, dass dies mein Bild und mein Pass seien. "Da wo Sie herkommen hat man doch dreißig Schwestern und Cousinen. Woher soll ich wissen, dass sie das hier auf dem Bild sind?" waren ihre Worte. Ich muss daran denken, dass mir deswegen ein halbes Jahr der Aufenthalt in Deutschland nicht gestattet wurde und ich meinen Status als Studentin verloren habe.

Ich muss an meine ägyptische Freundin denken, die nach den Ereignissen von 9/11 von ihrer Lehrerin aufgefordert wurde: "Jetzt komm mal nach vorne und erklär uns, was ihr da gemacht habt." Und ich denke an den einen Satz, den ich schon so oft gehört habe: "Ach, du bist Jüdin? Ihr habt doch überall eure Finger drin."

Nicht jede Alltagsrassist*in ist überzeugter Nazi

Die Liste ist sehr lang und viele BIPOCs* (Black Indigenous People of Color), Hijabis, Jüdinnen und Juden können mehr als ein Lied von Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus in unserer Gesellschaft singen. Natürlich ist der gewaltsame Tod Floyds eine Schandtat. Aber kann es sein, dass wir die allumfassende Empörung auch gut nutzen, um unseren eigenen Schandflecken zu verdrängen?

Rassismus beginnt nicht bei Mord. Während jeder Nazi auch Rassist*in ist, ist nicht jede Alltagsrassist*in überzeugter Nazi.

Profilbilderändern, Flaggezeigen, schwarze Kacheln und Hashtags sind legitime Mittel, um Solidarität zu zeigen, auf Probleme aufmerksam zu machen und die Sensibilität dafür zu erhöhen. Es ist aber auch längst an der Zeit, dass wir bei uns anfangen – bei uns und unserer unmittelbaren Umgebung: in der Familie, im Freundeskreis und am Arbeitsplatz. Das ist angesichts des erstarkenden Rassismus und Antisemitismus in Deutschland in jüngerer Vergangenheit oft gesagt worden. Aber wenig ist passiert. Das massive Rassismusproblem in den USA darf für uns kein einfaches Mittel sein, uns nicht mit dem Problem unseres eigenen Rassismus zu befassen. Wer es wirklich ernst meint, der zeigt jetzt noch deutlicher seine Zurückweisung, wenn das nächste Mal ein rassistischer Spruch, ein menschenfeindlicher Witz oder eine antisemitische Äußerung die Runde machen.

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PULS am 05.06.2020.