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Film // Boyhood Spuren der Zeit

Der Film "Boyhood" zeigt einen Jungen beim Erwachsenwerden. Regisseur Richard Linklater hat die Hauptperson dafür zwölf Jahre lang begleitet. Solche Langzeitbeobachtungen gab es schon früher – aber nie so konzentriert wie hier.

Von: Matthias Leitner

Stand: 04.06.2014 | Archiv

Szene aus dem Film Boyhood | Bild: IFC Productions

Aus einem Kind wird ein Mann. Die Proportionen verschieben sich, Arme und Beine werden länger, der Babyspeck schwindet aus dem Gesicht, die Wangenknochen treten immer deutlicher hervor, aus jugendlichem Flaum wird stoppeliger Bartwuchs. In "Boyhood" ist dieser Prozess kein digitaler Trick, Regisseur Richard Linklater hat tatsächlich zwölf Jahre lang seinem Hauptdarsteller Ellar Coltrane dabei zugesehen, wie er zum Mann wird. Jedes Jahr hat Linklater seine Filmcrew und seine Darsteller für wenige Tage zusammengeholt und einige Fragmente gedreht. Jetzt ist "Boyhood" fertig, es ist eine Reise auf den Spuren der Zeit geworden.

Das große Experiment

Dass "Boyhood" als einzigartiges Filmexperiement gefeiert wird, ist aus Marketinggründen natürlich verständlich, doch auch Linklater hat seine Vorbilder. Bereits 1959 hatte Francois Truffaut mit "Sie küssten und sie schlugen ihn" ein großartiges Drama über die Einsamkeit eines kleinen Jungen gedreht – sein Name: Antoine Doinel. Im Verlauf von 20 Jahren hat Truffaut immer wieder einzelne Episoden aus Antoines Leben gezeigt und insgesamt fünf Filme über ihn gedreht. Auch die "Doinel"-Reihe zeigt wie aus einem Jungen ein Mann wird, wie Hauptdarsteller Jean-Pierre Leaud vor unseren Augen altert, nur brauchte Truffaut dafür fünf Filme mit einer Laufzeit von knapp zehn Stunden.

Der lange Blick

So konzentriert und unmittelbar wie in "Boyhood" – der knapp drei Stunden dauert - ist der Lauf der Zeit bislang nur in Dokumentarfilmen festgehalten worden. Vor allem die faszinierenden Langzeitbeobachtungen der Regisseurin Jennifer Fox zeigen immer wieder, dass der Zeit niemand entkommt. In ihrem Film "My Reincarnation" begleitet sie über eine Phase von 25 Jahren ihren buddhistischen Lehrer und Guru. Es ist ein faszinierender Film, über Alter und Würde, über die Verwerfungen des Lebens, über Glaube, Krankheit und Tod. Nur ein Schnitt kann bedeuten, dass die Welt eine andere geworden ist.

Würde und Altern

Auch in "Boyhood" liegen zwischen Schnitten oft Welten. Während Schauspieler wie Ethan Hawke und Patricia Arquette reifer und älter werden, mehr Falten und weniger Haare bekommen, zeigt sich an Linklaters Hauptfigur Mason wie das Leben reift und Kraft entwickelt. "Boyhood" ist ein Film über Kindheit und Jugend, zwei Phasen in unseren Leben, die in der Rückschau meistens mit Freiheit, Sorglosigkeit und Chancen verbunden werden. Doch für Linklater ist klar, dass es keinen Sinn macht, Kindheit und Jugend zu verklären. Denn es gibt immer Sorgen, es gibt immer Schmerz und Leid. Die Spuren der Zeit zeigen sich schon in den Gesichtern von Kindern. Schon deshalb ist "Boyhood" ein besonderer Film, einer der unserer Medienkultur, in der das Altern als Verfallserscheinung inszeniert und in der die Kindheit, die ewige Jugend, zum bonbonfarbenen Erlösungsbild stilisiert wird, eine klare, sehr einfache, aber in dieser Weise ungesehene traurig-schöne Erkenntnis entgegengesetzt: Das Leben lässt sich nicht konservieren, die Zeit nicht zurückdrehen. Was uns allen übrig bleibt, ist es, auf den Moment zu achten.


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