16

Freiheit Lost Roadtrip-Feeling

Wann seid ihr das letzte Mal irgendwohin gefahren und wusstet nicht, wo ihr landen werden? Wann habt ihr das letzte Mal Drogen genommen ohne sie vorher zu googeln? Warum trauen wir uns nicht mehr, frei zu sein?

Von: Lisa Altmeier

Stand: 05.09.2016 | Archiv

Lost Roadtrip-Feeling | Bild: BR

Wenn meine Eltern Urlaub gemacht haben, haben sie sich in ihren orangenen Passat gesetzt und sind einfach losgefahren. Vier Wochen Roadtrip, jeden Sommer. Nach Portugal, nach Griechenland oder - ja, das gab es damals noch - nach Jugoslawien. Sie hatten veraltete Landkarten dabei und keine Ahnung, wo sie übernachten würden. Ohne Gerät, mit dem sie ihren Freunden täglich Fotos in eine Whatsapp-Gruppe hauen konnten. Sie hatten kein Navi, das sie sicher ans Ziel leitete. Erst recht waren sie nicht tagelang auf unübersichtlichen Reiseberwertungsportalen unterwegs oder haben virtuell 72 verschiedene Airbnbs besucht, etliche Trip Advisor Listen durchgescrollt und sich minutiös darüber informiert, welche Gefahren sie wohl erwarten würde. Sie hatten nur sich, ihr Auto, ihr Zelt - und ganz ganz viel Freiheit.

Wenn ich in den Urlaub fahre, mache ich all das, was meine Eltern früher nie getan hätten: Die Route ist klar, der Zeitraum genau festgelegt und die Ferienfotos werden auf Instagram gepostet. Alle meine Freunde machen das so. Und mittlerweile sogar meine Eltern selbst. Einfach weil wir es dank technischer Innovationen können, vielleicht aber auch, weil wir es inzwischen brauchen. Denn wir haben es verlernt, frei zu sein. Das Roadtripgefühl ist flöten gegangen und zwar nicht nur im Urlaub, sondern in unserem kompletten Alltag.

Wir informieren uns zwanghaft über alles

Wir befinden uns in einer selbstverschuldeten Unfreiheit. Freiheit ja bitte, aber nur auf einem eingezäunten Festivalgelände. Spontan, oh yeah, aber bitte sag mir doch drei Tage vorher auf WhatsApp Bescheid. Wann seid ihr das letzte Mal irgendwo hingefahren, ohne zu wissen, wo ihr landen werdet? Wir sind so aufgeklärt, dass wir abgeklärt sind. Nahezu zwanghaft informieren wir uns über alles: Drogen ausprobieren? Erst mal die Nebenwirkungen googeln. Autofahrt? Nicht mal 100 Kilometer ohne Navi. Ohne Smartphone in den Urlaub? Klingt nach einem äußerst unrealistischen Albtraum. Bevor wir jemanden daten, stalken wir ihn erstmal komplett durch - schließlich könnten wir ja unangenehme Charakterzüge entdecken! Die meisten von uns gehen nicht mal mehr ans Telefon, wenn ihr Display eine unbekannte Telefonnummer anzeigt.

Kurz: Wir versuchen alle zukünftigen Ereignisse möglichst präzise vorauszusehen. Oft passiert das nicht mal bewusst, schließlich haben wir uns an die Dauerkontrolle unseres eigenen Lebens schon sehr gewöhnt. Wir streben nach Sicherheit und Planbarkeit statt nach Abenteuer und Risiko.

60 Prozent der Leute halten Risiko für etwas Schlechtes

Dirk von Lotzow / Arnim Teutoburg-Weiß | Bild: BR zum Artikel Interview mit Dirk von Lowtzow & Arnim Teutoburg-Weiß "Ich war eher derjenige, vor denen Eltern ihre Kinder gewarnt haben"

Die Beatsteaks und Tocotronic haben sich für den Soundtrack von "Tschick" zusammengetan und "French Disko“ von Stereolab gecovert. Grund genug, Dirk von Lowtzow und Arnim von den Beatsteaks nach ihren "Tschick"-Momenten zu fragen. [mehr]

Dass wir auf Nummer sicher konditioniert sind, fällt auch in der Politik auf. Im deutschen Bundestag gibt es keine liberale Partei mehr: Die FDP ist rausgeflogen, nachdem sie sich mehr für Unternehmen als für Bürgerrechte stark gemacht hat. Die auch eher liberal geprägten Piraten haben nicht mal den Sprung ins Parlament geschafft. Studien zum Thema zeigen ebenfalls, dass wir das Risiko immer mehr scheuen. Das Institut für Demoskopie Allensbach hat im Auftrag des Bundesverbandes deutscher Banken untersucht, wie sich Sicherheitsbedürfnis und Risikovermeidung in den vergangenen Jahren entwickelt haben. Mehr als 1500 Leute, die einen Querschnitt der deutschen Bevölkerung repräsentieren, wurden dazu befragt, wie sie den Begriff "Risiko" bewerten. 1993 verbanden 43 Prozent der Befragten mit diesem Wort etwas Negatives, also nicht mal die Hälfte. Doch Ende 2015 wurde die Studie wiederholt und guess what: Inzwischen halten 60 Prozent Risiko für etwas Schlechtes.

Jugendstudien wie die die Shell-Studie oder die Studie Generation What weisen in dieselbe Richtung: Sicherheit wird gerade jungen Leuten immer wichtiger. Gleichzeitig vertrauen wir weniger in Institutionen wie Schule oder Kirche und glauben, dass wir ohne Internet nicht glücklich sein könnten, ohne Auto aber schon.

Aber wieso denken wir so anders als die Generationen vor uns? Liegt es an unserer exzessiven Smartphonenutzung oder ist die vielleicht vielmehr ein Symptom als eine Ursache?

Der Faktor Angst

Die Macher der Studien führen die veränderten Einstellungen unter anderem darauf zurück, dass Deutschland in den vergangenen zwei Jahrzehnten immer wieder mit Risiken konfrontiert war, die es vorher so nicht gab: Wirtschaftskrise, Finanzkrise, Eurokrise. Außerdem haben viele Menschen Angst, dass radikale und terroristische Vereinigungen größer werden und die Bevölkerung aufgrund von sozialer Ungleichheit immer weiter auseinanderklafft.

Auch auf dem Arbeitsmarkt ist die Situation heute unsicherer als früher: Die meisten Leute unter 30 können weder davon ausgehen, dass sie bis ans Lebensende in ihren Jobs arbeiten, noch dass sie von ihrer Rente werden leben können. Und obwohl die Arbeitslosigkeit offiziell auf einem Rekordtief ist, arbeiten gerade junge Leute häufig in unsicheren Verhältnissen: Von Zeitarbeit über Scheinselbstständigkeit bis hin zu Lehrern in Saisonarbeit, die pünktlich zum Sommerferienbeginn Hartz IV beantragen müssen, weil sie nur das Schuljahr über beschäftigt werden.

Lasst uns Leute kennenlernen, die kein Algorithmus vorgeschlagen hat!

Bei so viel Unsicherheit ist es dann vielleicht gar nicht mehr so verwunderlich, dass wir im Alltag nach Sicherheit streben. Aber leider nehmen wir uns damit sehr viele Chancen: Darauf, Dinge zu lernen, die wir nicht googeln würden, Menschen zu treffen, die uns kein Algorithmus vorgeschlagen hat und Orte zu sehen, von denen wir nicht mal wussten, dass es sie gibt.

Das fällt immer dann besonders auf, wenn man Leute trifft, die es anders machen. Im Film TSCHICK wagen zwei Jungs etwas, das heute eigentlich gar nicht mehr in Frage kommt: Sie schnappen sich ein Auto, schmeißen ihr Smartphone aus dem Fenster und fahren einfach mal Richtung Süden - oder naja zumindest in die Richtung, die sie für Süden halten. Unterwegs bauen sie jede Menge Scheiße und trotzdem - oder vielleicht gerade deswegen - haben sie die geilste Zeit ihres Lebens. Sie wissen nie, was als nächstes passiert. Die meisten von uns hingegen wissen immer genau, was kommt - ob nächste Woche, nächsten Monat oder im nächsten Sommerurlaub.

Schaut "Tschick" vor allen anderen kostenlos im Kino!

Ein heißer Berliner Sommer, zwei 14-jährige Außenseiter, ein geklautes Auto und ein Roadtrip in die Walachei. Du willst das tragikomische Roadmovie "Tschick" vor allen anderen kostenlos im Kino sehen? In der PULS Preview zeigen wir euch den neuen Film von Fatih Akin - umsonst und am Abend vor dem offiziellen Kinostart! Karten für die PULS Preview gibt es nicht zu kaufen, sondern nur bei uns! Einfach das Formular auf dieser Seite ausfüllen und mit etwas Glück seid ihr am 14. September in eurer Wunschstadt dabei.

Ein bisschen mehr “Tschick”-Gefühl, eine Prise mehr Roadtrip im Alltag - das würde den meisten von uns sehr gut tun. Mal drauflosleben, das funktioniert auch im Kleinen: Menschen ansprechen, die man nicht kennt, in einen unbekannten Stadtteil fahren, in einer lauen Nacht einfach mal irgendwo draußen schlafen und vor allem das Smartphone einfach mal weglassen.

Uns fehlt das Tschick-Gefühl

Das alles ist das Gegenteil von bequem und ja, Risiko bedeutet auch, dass was schief gehen kann. Man kann an einem Ort landen, der einem nicht gefällt und Menschen treffen, die gemein sind. So wie bei meinen Eltern damals: In Porto wurden sie ausgeraubt und ihr kompletter Autoinhalt gestohlen. In Griechenland landeten sie mit sehr leeren Magen im einzigen Restaurant eines kleinen Dorfs - das dann allerdings wegen geschlossener Gesellschaft nicht geöffnet war. Und in Jugoslawien zwang sie die Militärpolizei zu einer Schutzgeld-Zahlung.

Doch manchmal passieren dann eben auch die kleinen wunderbaren Dinge, die zeigen, dass sich das Ganze doch lohnt: Nach dem Raub in Porto hatte ein zufällig vorbeilaufender Portugiese Mitleid mit meinen Eltern und schämte sich dafür, dass sie von einem seiner Landsleute ausgeraubt wurden. Also lud er sie zum Essen ein und half ihnen mit Kleidung aus. In dem griechischen Restaurant wurde eine Hochzeit gefeiert - und als meine Eltern gehen wollten, lud das Brautpaar sie spontan zum Mitfeiern ein. Nur mit der Polizei aus Jugoslawien konnte sich meine Mutter nie aussöhnen, aber immerhin kann sie heute ihrer Tochter davon erzählen, wie krass es doch damals in Jugoslawien war. Und wenn wir, ob im Alltag oder unterwegs, auch ein paar Storys erleben wollen, die wir später unseren Kindern erzählen wollen, dann sollten wir jetzt loslegen.


16