Meinung zu Alkoholverzicht Wer nicht trinkt, gehört nicht dazu

Als andere das erste Mal von zu viel Bier gekotzt haben, stand unser Autor nüchtern daneben. Keinen Alkohol zu trinken, machte seine Jugend stressig. Heute fragt er sich: Warum gehört gerade auf dem Land Alkohol zum Aufwachsen?

Von: Julian Wenzel

Stand: 05.06.2019 | Archiv

Jugendliche sitzen zusammen, trinken Alkohol und rauchen. | Bild: Adobe

Ja, Leute, ich gestehe es: Ich habe noch nie in meinem Leben Alkohol getrunken. Und das hat mir meine Jugend auf dem Land echt schwer gemacht. Während andere "nur" mit den plötzlichen Veränderungen am Körper und im Kopf beschäftigt waren, hatte ich mich mit meinem Alkoholverzicht freiwillig zum Outsider gemacht. Andere stießen immer häufiger mit Apfellikör oder irgendwelchen Bier-Plus-Süße-Scheiße-Getränken an, nur ich blieb bei Limo, Saftschorle oder Spezi. Und das ausgerechnet in einer Weingegend. Dort, wo Alkohol immer und überall fließt und meine Oma meinte, dass die Polizei sowieso nie kontrolliert, weil ein paar Promille zum guten Ton gehören. Ich war quasi doppelt gestraft.

Warum es so schwer ist, auf dem Land ohne Alkohol aufzuwachsen

Egal, wo man sich auf dem Land trifft: Im Sportverein, im Schützenheim, auf der Kirchweih  – überall gehört Alkohol zur Geselligkeit. Wer da nicht mitmacht, scheint gegen ungeschriebene Dorfgesetze zu verstoßen. Wenn ich mit 17 auf einem Weinfest eine Zitronenlimo bestellte, wurde ich ungläubig angeschaut. "Willst du gar nichts von dem guten Frankenwein?". Selbst auf Familienfeiern ging es nicht ohne Alkoholdiskussion. Zum Anstoßen gehöre ein Schlückchen doch schließlich dazu. Nein, tut es nicht! Schließlich erwartet auch niemand, dass jeder auf einer Geburtstagsfeier kokst. Und nein, der Vergleich hinkt nicht. Denn sowohl Kokain als auch Alkohol sind Drogen.

Plötzlich wurde ich als Partybremse bezeichnet, nur, weil ich am Wochenende nicht gekotzt hatte. Freunde machten es sich zur Challenge, mir heimlich Vodka ins Glas zu mischen und beim Anstoßen schauten andere mich mitleidig an. Egal, wem ich auf einer Party mit meiner Limo begegnete, irgendwie wurde es immer zum Thema. Entweder direkt angesprochen oder auch ganz ohne Worte. Dahinter steckt die immer gleiche und wenig subtile Botschaft: Wer nicht trinkt, gehört nicht dazu.

Immer wieder die gleichen Fragen

Sobald ich auf einer Party neue Leute kennenlerne, geht die große Fragestunde los. Das mag vielleicht nett gemeint sein, ist in Wirklichkeit aber ätzend. Was würden sich wohl Alkoholtrinker denken, wenn ich sie jedes Mal fragen würde: "Wieso hast du dich entschieden, Bier zu trinken?", "Wie kannst du besoffen Spaß haben?" oder "Ist dein Leben echt so scheiße, dass du es dir schön trinken musst?!". Wie sehr beneide ich manchmal einfach schwangere Frauen. Das ist nämlich die einzige Ausrede, die jede Diskussion in diese Richtung sofort erstickt. Ich habe einfach keinen Bock mich ständig dafür rechtfertigen zu müssen, was eigentlich normal sein sollte.

Wir haben ein Alkoholproblem

Ich trinke nicht nichts, um den Moralapostel zu spielen oder andere Leute davon zu überzeugen. Ich mache das vor allem für mich. Vielleicht weil ich Angst vor Kontrollverlust habe, aber auch weil ich nicht verstehe, dass viele ihren Körper so bewusst schädigen. Aus Sicht eines Alkoholoutsiders kann ich absolut nüchtern sagen, dass wir in unserer Gesellschaft ein mächtiges Alkoholproblem haben. Die Droge ist immer und überall verfügbar – gerade auch für Jugendliche. Amerikanische Freunde können kaum glauben, wenn sie hören, dass Bier und Wein bei uns schon ab 16 legal sind. Und gerade auf dem Land gehört Saufen einfach zum guten Ton. Dabei sterben 200 Menschen jeden Tag an den Folgen von Alkohol in Deutschland, 1,77 Millionen Deutsche sind süchtig nach der flüssigen Droge. Die Zahlen sind mehr als erschreckend und trotzdem rütteln sie unsere Gesellschaft nicht wach – weil Alkohol einfach Kulturgut ist.

Sicherlich hat Alkohol schon einige Abende gerettet. Aber – da muss ich jetzt doch die Moralkeule schwingen – wir sollten uns nicht zum Trinken erziehen lassen. Ich würde mich freuen, wenn es genauso akzeptiert wäre, nichts zu trinken. Wenn wir nicht automatisch mit Alkohol sozialisiert würden. Ich kann euch sagen, dass ein Leben ohne Alkohol nicht so "sinnlos" ist, wie manche Kalendersprüche meinen lassen. Und wenn ihr Leute wie mich in Zukunft mit endlosen Nachfragen dazu in Ruhe lasst, dann habe ich sogar Zeit, euch ein paar alkoholfreie Cocktails zu mixen.

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Sendung: Puls vom 06.06.2019 - 15 Uhr