Interview // Podcasterin Maria Anna Schwarzberg "Hochsensibilität ist wie ein implodierendes Chaos"

Für Maria Anna Schwarzberg kann schon eine Bahnfahrt extremer Stress sein. Sie ist hochsensibel und nimmt alles viel intensiver wahr als die meisten. Wir haben sie gefragt, wie es sich mit diesem Persönlichkeitsmerkmal lebt.

Von: Conny Neumeyer

Stand: 02.07.2019 | Archiv

Maria Anna Schwarzberg  | Bild: verena wittmann

Schätzungen zufolge sollen etwa 15 Prozent der Menschen weltweit hochsensibel sein. Maria Anna Schwarzberg ist eine von ihnen. Seitdem die 30-Jährige weiß, dass sie hochsensibel ist, klärt sie in ihrem Podcast "Proud to be Sensibelchen" und in Artikeln über das Persönlichkeitsmerkmal auf. Sie selbst erfuhr erst nach einem Burn-out, dass ihr Körper und Geist ganz anders mit Reizen aus ihrer Umwelt umgehen, als das bei anderen Menschen der Fall ist.

PULS: Mal ganz von vorne und für jemanden, der noch nie davon gehört hat: Was ist Hochsensibilität?

Maria Anna Schwarzberg: Wenn ein Mensch hochsensibel ist, bedeutet das, dass seine Sinneskanäle immer offen sind. Das ist auf der einen Seite sehr schön, weil man die Welt intensiv, bunt, sehr vielfältig und laut wahrnimmt. Auf der anderen Seite ist das aber natürlich auch anstrengend, weil all diese Reize im Gehirn verarbeitet werden müssen. Deswegen brauchen hochsensible Menschen meistens mehr Zeit und Raum für sich und ihre Gedanken. Und wenn man dann noch gar nicht weiß, dass man hochsensibel ist, fühlt sich das ein bisschen wie ein implodierendes Chaos an – weil man ständig versucht mit allen anderen Schritt zu halten, die weniger Reize wahrnehmen und die deswegen natürlich schneller verarbeiten.

Wie äußert sich Hochsensibilität?

Da wähle ich immer gerne das Beispiel einer Bahnfahrt, weil sich da jeder reinversetzen kann. Wenn wir in eine Bahn steigen und nicht sonderlich sensibel sind, dann steigen wir ein, sehen einen freien Platz, setzen uns hin, lesen ein Buch und steigen irgendwann wieder aus. Wenn wir aber hochsensibel sind, dann steigen wir ein, nehmen schon die ersten Gerüche wahr und die Grundstimmung in der Bahn: die Hektik, den Stress. Dann suchen wir uns einen Platz und stellen fest, dass der vom Vormann oder von der Vorfrau noch warm ist oder dass der Stoff unangenehm durch den Rock oder die Hose drückt. Vielleicht versuchen wir dann sogar auch zu lesen, aber wir können all das ringsum nicht ausblenden, weder die Musik vom Gegenüber noch das Telefonat oder Gespräch von nebenan. Das alles kommt ungefiltert bei uns an. Nicht, weil man so neugierig ist und das alles unbedingt hören möchte, sondern weil man es nicht ausblenden kann.

Mal ehrlich: Ist Hochsensibilität die neue Gluten-Unverträglichkeit? Oder ist sie wissenschaftlich belegt?

Ich kann den Gedanken ehrlich gesagt sehr gut nachvollziehen. Ich spreche lieber von Sensibilität, denn an sich ist Sensibilität ja nichts Neues. Es hat schon immer Menschen gegeben, die mehr oder weniger sensibel sind. Das ist ein Persönlichkeitsmerkmal, das uns ausmacht – und mit dem Vor- und Nachteile einhergehen. Zu einem eigenen Forschungsgebiet ist die Hochsensibilität erst vor knapp 25 Jahren geworden, als sich die US-amerikanische Psychologin Elaine Aron operieren lassen hat und durch den Eingriff ganz schön aufgewühlt war. Ihre Therapeutin hat sie daraufhin als hochsensibel bezeichnet und Aron hat beschlossen, ihre eigene Forschung auf das Gebiet auszuweiten. Erst durch Aron ist Hochsensibilität greifbar und verständlich geworden – und auch wissenschaftlich belegt.

Wie aussagekräftig sind die Studien über Hochsensibilität, wenn erst seit knapp zwei Jahrzehnten dazu geforscht wird?

Die Forschung ist auch heute noch auf einem relativ geringen Stand. Das liegt aber auch daran, dass Hochsensibilität keine Krankheit ist, sondern ein Persönlichkeitsmerkmal. Deswegen unterstützt die Pharmaindustrie die Forschung nicht, weil man natürlich kein Geld in die Entwicklung einer Wunderpille stecken kann, mit der die Hochsensibilität wieder verschwindet. Es gibt aber trotzdem durchaus sehr spannende und aussagekräftige Studien. Man hat zum Beispiel herausgefunden, dass Hochsensibilität vererbt wird.

Außerdem konnte die Forschung mittlerweile nachweisen, dass bei hochsensiblen Menschen der Serotonin-Speicher etwas abgesenkt ist. Die Erziehung, die familiäre Prägung, spielt eine wichtige Rolle für die Entwicklung: Wenn das Elternhaus sehr geduldig und liebevoll ist und diesem besonderen Persönlichkeitsmerkmal Raum gibt, können hochsensible Menschen ihre Stärken gut entwickeln. Wenn aber auf sensible Menschen viel Druck ausgeübt wird, ihnen wenig Verständnis entgegengebracht wird, dann kann es sein, dass sie später häufiger mit psychischen Erkrankungen zu kämpfen haben.

Du hattest schon mit 25 ein Burn-out – auch aufgrund deiner Hochsensibilität, von der du erst in dieser Zeit erfahren hast. Wie gehst du seitdem mit dir um?

Was mir persönlich hilft und was ich auch von vielen anderen gehört und gelesen habe: Wenn ich wirklich total überreizt und überfordert bin, wie so ein Kind, das schon über der Müdigkeitsgrenze ist – dann verlasse ich sofort diese stressende, drückende Situation. Ich nehme mir in diesen Momenten wirklich Zeit, nur Dinge zu machen, die mir in diesem Moment guttun. Meistens koche ich was oder bestell mir irgendwas, mache mir vielleicht eine tolle Serie an oder lese ein Buch. Bis ich wieder den Moment habe, in dem ich merke: Die Anspannung übernimmt nicht mehr. Mein nervöses Gehirn, das jetzt gerade alles auf einmal schaffen möchte und dabei 5.000 Gedanken hat, das kommt zur Ruhe. Dann bin ich jemand, der zum Beispiel sehr rational wird und sich ein großes Blatt nimmt und die Aufgaben aufschreibt, die für unterschiedliche Bereiche anstehen. Die strukturiere ich dann, um für mich Ordnung reinzubringen, und verteile sie ganz bewusst auf mehrere Tage oder Wochen, um wieder einen Rhythmus reinzubekommen, der auch zu schaffen ist.

Inwiefern ist Hochsensibilität aber nicht nur Belastung, sondern auch ein Vorteil?

Bei mir ist es so, dass diese starke Sensibilität meine Arbeit überhaupt erst möglich macht. Ansonsten könnte ich als Autorin andere Menschen wahrscheinlich nicht in so einer Tiefe beschreiben oder überhaupt so schreiben, wie ich es kann. Das ist für mich persönlich ein großer Vorteil. Und ich weiß, dass es sehr vielen Sensiblen ähnlich geht. Häufig sind sie aufgrund der Sensibilität sehr fantasievoll und zum Beispiel in Kreativberufen tätig. Viele Sensible findet man aber auch in Managementpositionen, weil sie eben echte Querdenker sind, Verbindungen ziehen und neue Lösungen finden. Auch in sozialen Berufen sind sie häufig vertreten, weil sie so empathisch sind. Bei sich selbst und anderen können sie kleinste Veränderungen in Mimik, Gestik oder Tonalität bemerken und die Menschen dadurch recht gut einschätzen.

Wenn ich glaube, hochsensibel zu sein, wie und wo kann ich mich zuverlässig diagnostizieren lassen?

Es gibt die Möglichkeit, Kurztests zu machen. Einen davon gibt es zum Beispiel auf der Website von Elaine Aron. Der Test ist eigentlich nur eine kurze Abfrage, um eine erste Tendenz zu geben und eine Antwort auf die Frage: Bin ich ein sehr sensibler Mensch? Wenn man es ganz genau wissen möchte, kann man beim Psychologen oder Psychotherapeuten einen umfassenden psychologischen Test ablegen. Wenn einem also eine genaue Diagnose eines Persönlichkeitsmerkmals wichtig ist, kann man sich die so holen.

An der Stelle ist mir aber auch immer wichtig: Hochsensibilität ist keine Krankheit, sondern einfach nur die Seite einer Person. Und das ist das Wichtigste: Ein Bewusstsein dafür zu entwickeln, dass man ein sensibler Mensch ist und es gut wäre, wenn man achtsamer mit sich umgeht. Sobald sensible Menschen das erfahren, passiert das meist ganz automatisch. Als hätten sie plötzlich eine Legitimation dafür erhalten, dass es okay ist, introvertiert zu sein und seine Wochenenden mit sich zu verbringen, anstatt einen extrovertierten Lebensstil zu pflegen.

Sendung: PULS am 02.07.2019 - ab 10.00 Uhr