Netzphänomen Poppy Diese YouTuberin beschert uns Albträume

Wer oder was ist Poppy? 250 Millionen Menschen haben die gruseligen Videos des Mädchens bereits gesehen, Diplo hat Songs für sie produziert und momentan entsteht ein Kinofilm über sie. Eine heiße Spur führt zu den Illuminaten!

Von: Stefan Sommer

Stand: 18.12.2017 | Archiv

Poppy Creepy | Bild: Screenshot / YouTube

Sie schaut sich ängstlich in ihrer YouTube-Zelle um, als wäre die Computerstimme Siri als zierliches Manga-Mädchen aus dem Smartphone-Bildschirm gestiegen und vor der Welt erschrocken. Ihr Blick fokussiert sich und sie piepst in die Kamera: "Hi, I'm Poppy! Hi, I'm Poppy! Hi, I'm Poppy!" Für zehn Minuten wird sie mit der unschuldigen Scheue eines Kindes diese Worte wiederholen: HI. I. AM. POPPY. Dieses Video ist mit über 13 Millionen Views der bis heute erfolgreichste Clip des Kanals "ThatPoppy". Das Internet hat ein neues Rätsel zu lösen: Wer ist die puppenhafte Gestalt, über die auf dem Sundance Filmfestival in wenigen Wochen eine Doku vorgestellt wird und für die Erfolgsproduzent Diplo Musik schreibt?

Bisher gibt es von Poppy hauptsächlich kurze Videos. Sage und schreibe 250 dieser Tagebucheinträge sind auf ihrem Youtube-Kanal zu finden. Das Setting ist minimalistisch: Poppy scheint wie ein High-Fashion-Tamagotchi in ihrem YouTube-Kanal zu leben. Aus einem pastellfarbenen Quader sendet sie ihre Botschaften und Hilferufe (dazu später mehr!) in die digitale Welt.

Mit der mechanischen Mimik eines Roboters und der Stimme eines Navigationsgeräts spricht sie über das Leben als YouTube-Star und ihre Follower. Ihre wichtigste Bezugsperson ist die Schaufensterpuppe Charlotte - sie taucht immer wieder auf, gibt Ratschläge und dient als Sidekick. Eine weitere Nebenfigur ist eine sprechende Topfpflanze, die von Poppy interviewt wird und sie in modischen Fragen berät.

Der Engel mit den Roboteraugen

Die kurzen Videos arbeiten mit Wiederholungen, kreiseln in Wortschleifen. Dramaturgisch sind sie so aufgebaut, wie Slapstick-Sketche in einem absurden Traum funktionieren würden: Die Bananenschalen rutschen auf den Menschen aus. Alle Elemente sind vorhanden, um eine komische, groteske Situation zu einer Pointe zu steigern. Doch sind die Handlungen mit einem düsteren, drohenden Sound unterlegt und laufen am Ende meistens ins Leere – übrig bleibt große Ratlosigkeit. Ein wiederkehrendes Motiv ist - und jetzt endlich zu den Illuminaten - dass Poppy scheinbar in diese Rolle gedrängt wird, eine fremde Macht über sie herrscht. In einem der Videos flüstern ihr verzerrte Stimmen einen Text zu.

Wer oder was ist Poppy?

Im Stile realer Instagram-Influencer inszeniert sich Poppy in vielen Szenen als Internetstar von nebenan. Ihre Videos geben uns das Gefühl, als würden wir sie kennen. Die Piepsstimme und ihr kindliches Auftreten lassen sie verletzlich erscheinen, die außerirdische Unbeholfenheit ihrer Handlungen macht sie gespenstisch. In ihr manifestieren sich unsere Urängste vor einer entfremdeten, technokratischen Cyberzukunft, die den Menschen durch Maschinen ersetzt. Poppy ist eine doppeltverspiegelte Hochhausfassade, eine kalte Fantasie, eine unveröffentlichte Black-Mirror-Episode - Ariana Grande, falls David Lynch ihr Psychologe wäre.

In ihren Videos spielt sie mit Illuminaten-Symbolen, spricht von "them", die sie hier gefangen halten würden und macht Andeutungen, dass sie vielleicht gar kein Mensch sein könnte. Gefragt, ob sie aus Nashville komme, antwortete sie in einer Talkshow Folgendes:

"No, I’m from the Internet!"

Poppy - Interview

Und, oh Wunder: Die Kommentarspalten implodieren. Hunderttausende Menschen versuchen online das Geheimnis um das seltsame Mädchen zu lüften. Kurzum: Poppy kreiert sich ihren eigenen Internethype, weil sie verstanden hat, was die Leute im Internet interessiert: Verschwörungstheorien! Verschwörungstheorien! Verschwörungstheorien! Und die in möglichst 140 Zeichen.

Und jetzt wird's richtig kompliziert

Wer steckt hinter dem Phänomen? Die digitale Schnitzeljagd führt nach stundenlangen Google-Suchen zu einem Namen: Moriah Perreira. 1995 soll sie in Nashville geboren und nach einigen Projekten als Sängerin nach Los Angeles gezogen sein. Da trifft sie 2014, so die Legende, auf einen Mann: Titanic Sinclair. Es fällt auf, dass sein Name unter jedem Video von Poppy zu finden ist. Er ist ihr Regisseur. Seit Ende des Jahres 2014 werden die Videos auf ihrem Account veröffentlicht.

Sinclair tritt manchmal zusammen mit Poppy auf und scheint, wie ein Interview mit dem National Public Radio belegt, ihr auch einzusagen, was sie auf Fragen antworten soll. Ob das Teil der Inszenierung Poppys als Mädchen in den Fängen eines Kults ist, oder ob er wirklich wie ein Vormund für sie spricht, lässt sich nicht endgültig klären.

Das neueste Projekt ist die Gesangskarriere des jungen Mädchens. Wie das Klischee eines C-Promis, der nach dem Internet-Fandom unbedingt als Popstar durchstarten möchte, geht Poppy 2018 mit ihrem von Diplo produzierten Debüt-Album "Poppy.Computer" (Radiohead! Radiohead!) auf große US-Tour. Ob sie sich aus ihrem digitalen Gefängnis hinter unserem Bildschirmglas befreien wird und ob Titanic Sinclair eigentlich selbst auch nur eine Erfindung der Illuminaten ist, wird sich vielleicht erst dann beantworten lassen.

Sendung: Plattenbau vom 20. Dezember 2017 ab 19 Uhr