"Popp' 'ne Xanny, Bitch!" Wie ein Angstblocker die Lieblingsdroge des Deutschrap werden konnte

RIN poppt die Xanny, UFO361 mischt Xans mit Lean: Das Medikament Xanax macht sich im deutschen HipHop breit. Wo kommt es her und wie wirkt es? Was ist mit Deutschrap los, wenn ausgerechnet Angstblocker zum Lifestyle-Gadget werden?

Von: Stefan Sommer

Stand: 23.08.2018 | Archiv

Xanax | Bild: CIU

Sie poppen die Zannies, Xans, Z-Bars, Zanbars, Hulks, Planks, Blue Footballs, Bricks, Bars, Benzos, White Girls, White Boys, Xannys, XanXans, das Alprazolam. Die Texte von deutschen Rappern lesen sich 2018 wie die Sitzungsprotokolle einer Psychotherapie. Stoff der Stunde: Benzodiazepine, bevorzugt der amerikanische Angstblocker Xanax. Als Partydroge und Must-Have-Lifestyle-Gadget tauchen “Benzos” (Benzodiazepine) wie Xanax unter ihren vielen Decknamen plötzlich auch im deutschen HipHop auf.

"Dritte Roli, noch 'ne Patek, ey, ey (noch 'ne Patek, ey)
Misch' das Lean mit Xanax, ey (Lean)
Zähl' die Hunderter (ja)
Meine Chains circa 100k."

Ufo361, 40k

Xanax ist für den Berliner Rapper Ufo361 Party, Jet-Set, Erster-Sein - wer es poppt, hat was zu feiern. In "40k” löst es die obligatorische Champagnerflasche ab. Anderes Beispiel: RIN. Der Bieitigheim-Bissinger unterbricht das Aufzählen von Haute-Couture-Labels auf seiner neuen EP "Planet Megatron", um Xanax abzufeiern. Er lebt in "Avirex" das gute Leben. Ein Selbstportrait des sozialen Aufstiegs: In Designer-Jacke, im Lambo sitzend, poppt er eine "Xanny".

"Pop' 'ne Xanny, Bitch, Jacke ist von Avirex (whoo)
Zigarette an, Lamborghini-Benzer-Shit (ey)
Alles ist iced-out (iced-out)
Ich geh' mit den Brüdern raus, ja (oh, Junge)"

RIN, Avirex

Die Downside des High-Life: In den Obduktionsakten von Michael Jackson, Heath Ledger, Prince, Amy Winehouse, Tom Petty, und Brittany Murphy finden sich Benzodiazepin-Cocktails. Im Januar dieses Jahres starb der US-Rapper Lil Peep, nur ein paar Stunden nachdem er vor seinen Millionen Insta-Followern Xanax genommen hatte, an exakt dieser Überdosis. Benzodiazepine sind aber nicht nur ein Problem von Rockstars und Schauspielern in Hollywood: Allein in Deutschland sollen zwischen 1,1 und 1,3 Millionen Menschen von den Medikamenten abhängig sein.

"Ich bin zu einem Niemand geworden. Niemand versteht diesen Schmerz. Ich bin fertig. Meine eigene Frau hat mich aus dem Haus geworfen. Ich hoffe sehr, dass der Benzo-Entzug endlich funktioniert und dieser Alptraum endlich endet. Ich war früher ein erfolgreicher, junger Mann, ich war glücklich - heute bin ich ein lebender Toter. Ich hoffe, es hört bald endlich auf. Alles. Bitte!"

Anonymer Xanax-Konsument, Aus der Facebook-Gruppe 'Panikattacken, Angststörungen, Benzodiazepin-Entzug'

Warum also feiern deutsche Rapper ein Medikament gegen Panikattacken und Depressionen, als wäre es der Fidget-Spinner? Wie konnte Xanax 2018 Deutschraps Lieblingsdroge werden?

Benzos als Mittel gegen die Angst

Xanax ist ein starkes Medikament, ein Mittel gegen Angststörungen und Panikattacken. Alprazolam, der Wirkstoff darin, gehört zu den Benzodiazepinen und ist verschreibungspflichtig in den USA und Deutschland. Der amerikanische Pharmakonzern Pfizer entwickelte in den 1970er-Jahren Alprazolam. In den USA verkauft es das Unternehmen als Xanax, in Deutschland unter dem Namen Tafil. Menschen in extremen seelischen Notsituationen bekommen es, zum Beispiel wenn sie unter akuten schweren depressiven Episoden leiden oder unter starken Angstattacken.

Dr. Stefan Gutwinski, Oberarzt an der Psychiatrischen Universitätsklinik der Charité in Berlin, ordnet ein, in welchen Situationen Menschen das Arzneimittel eigentlich verschrieben wird. Aus seiner täglichen Erfahrung mit Depressionspatienten weiß er, wie Alprazolam wirkt und was im Körper passiert:

"Benzodiazepine sind angstlösend, beruhigend und dämpfend. Sinneseindrücke werden vermindert stark wahrgenommen. Xanax wurde für psychiatrische Akut-Patienten entwickelt, die sich in starken Erregungszuständen befinden, weil es schon nach 30 Minuten wirkt. Vielen Menschen konnte man so helfen - wenn das Medikament richtig eingestellt war. Es hat dennoch ein hohes Suchtpotential."

Dr. Stefan Gutwinski - Charité, Berlin

Von Nervenzusammenbrüchen und Heulkrämpfen

In Facebook-Gruppen tauschen sich Tausende über ihr Leben mit Benzos aus. Eine von ihnen ist Carla (Name geändert). Sie ist 23 Jahre alt und seit 2015 benzoabhängig. Seit zehn Tagen macht sie einen Entzug. Sie möchte mit uns über ihre Erfahrungen mit den Medikamenten sprechen. Aus der Tagesklinik erzählt sie uns, was die "Xanny poppen" für sie bedeutet:

"Xanax bewirkt, dass man ruhiger wird und die Sorgen weggehen. Man fühlt sich schwerelos. Alles ist plötzlich einfach und unkompliziert. Es lindert böse Gedanken. Man spürt sie weniger. Das ist natürlich am Anfang ein schönes Gefühl. Nur, wenn die Wirkung nachlässt, ist die Realität eben wieder da. Dann will man mehr nehmen und nachlegen."

Carla - Sprachnachricht via WhatsApp

Zwischen der Morgen-Visite und den Einzeltherapie-Sitzungen am Nachmittag schickt uns Carla noch eine Sprachnachricht. Fokussiert und mit klarer Stimme erzählt sie, wie 2015 alles bei ihr begonnen hatte, von den Anfängen ihrer Benzo-Sucht:

"Mir ging es damals sehr schlecht. Ich hatte ständig Nervenzusammenbrüche und Heulkrämpfe. Ich war 20 Wochen in der Akutpsychiatrie. Dort habe ich zum ersten Mal Benzos bekommen. Erst Tavor, dann Xanax. Ich wollte keine Gefühle mehr spüren, keine Emotionen mehr wahrnehmen. Ich wollte, dass einige Gedanken und Gefühle nicht mehr hochkommen. Irgendwann hat die Dosis aber nicht mehr gereicht und ich musste sie steigern. Das war dann lebensgefährlich."

Carla - Sprachnachricht via WhatsApp

Erschöpft sei sie von der Visite, die Therapie, die gleich beginne, sei jeden Tag zum Heulen. Die Tage hier seien sehr anstrengend. Irgendwann sendet Carla keine Memos mehr, bleibt aber online. Eine Nachricht sollen wir später allerdings noch von ihr bekommen.

Xanny, make the pain go away

Ihren Anfang nimmt die Glorifizierung von Xanax im Pop vor 15 Jahren in den USA. In Memphis erwähnt der Rapper Lil Wyte 2003 zum ersten Mal "Xanax Bars" in seinem Song "Oxy Cotton". Mit enorm steigenden Verschreibungszahlen entwickelt sich das Präparat Anfang der Nullerjahre zu einem Nachfolger des Beruhigungsmittels Valium. Die günstigen Preise für die Pillen auf dem Schwarzmarkt machen sie schnell zu einem Massenproblem. 17.000 Menschen wurden 1995 in den USA in die Notaufnahme eingeliefert, weil sie eine Xanax-Überdosis genommen hatten - 2012 sind es schon rund 130.000. HipHop-Superstars wie Eminem, der auf seinem Album "Relapse" 2009 Xanax thematisiert und Tyler, The Creator schreiben Xanny-Lines.

Seit 2015 beherrscht eine neue Generation den amerikanischen Xanax-Diskurs: Lil Xan, Lil Uzi Vert, Future, Travis Scott, XXXtentacion, Lil Pump, Gucci Mane und Lil Peep. Explizit legen diese Rapper ihren Benzodiazepin-Konsum offen. Xanax ist hier aber kein Statussymbol wie heute bei RIN oder Ufo361: Die Abstiegsangst, die seit dem Bankencrash 2007 die USA verändert hat, ist in ihren gespenstisch kalten Stücken gegenwärtig. Sie erzählen offener und verletzlicher, als das jemals im HipHop möglich zu sein schien, von prekären Existenzen am Rande der amerikanischen Gesellschaft - und von einem Medikament, das sie durch die Tage bringt.

"She say I'm insane, yeah
I might blow my brain out (hey)
Xanny, help the pain, yeah
Please, Xanny, make it go away."

Lil Uzi Vert & Gucci Mane - XO TOUR Llif3

Bisher galt im Business der Grundsatz: Keine Schwäche zeigen. Nun entsteht ein neuer Typ Rapper: emotional, suizidal, narzisstisch, expressiv, traurig und drauf. Gesichtstätowiert, mehr murmelnd als sprechend, klagt er über Ausweglosigkeiten. Labil und immer kurz vor dem Nervenzusammenbruch erzählt er von einem Amerika, das trotz hochkarätiger Goldketten und Designerklamotten nur betäubt zu ertragen ist. Das Märchen vom Selfmade-Man hält keinen mehr vom Selbstmord ab. Ihr American Dream ist jetzt verschreibungspflichtig.

"Ich nehme Xanax als absolute Notfalltropfen, wenn gar nichts mehr hilft. 5 Tropfen und ich bin völlig lahmgelegt, völlig weg. Dann ist Ruhe."

Anonyme Xanax-Konsumentin - Facebook-Gruppe 'Panikattacken, Angststörungen, Benzodiazepin-Entzug'

We're All Living In America

Die österreichische Rap-Kunstfigur Money Boy erkennt als Erster im deutschsprachigen Raum die Kraft und Hipness des Xanax-Existenzialismus: Der enorme kommerzielle Erfolg der amerikanischen Schmerzensmänner könnte sich auch hier wiederholen lassen. In Money Boys Inszenierung als Alpen-Lil-Wayne dürfen Benzodiazepine also nicht fehlen. Er und seine Homies von der GloUpDinero-Gang um Hustensaft Jüngling spielen früh mit den US-Schlagworten. Sie arbeiten an ihrem Image als Xanax-Addicts - oft an der Schwelle zur Parodie:

"Leute, sie haten, denn ich bin der Man
Chille mein Life und ich poppe die Xan
Ficke die Hoes in meinem Van
Versteck' im Handschuhfach Waffen
Bin den ganzen Tag am Paffen."

Hustensaft Jüngling, Kim Jong Un

In ihrem Fahrwasser etablieren sich Acts wie RIN, Lil Lano, Yung Cobain, Trippie Boi oder Benzo. Sie sehen den amerikanischen Vorbildern zum Verwechseln ähnlich. Auch sie fantasieren von Xannys, von Shawtys mit Blackout und Hoes in Vans. Unterschied: Der gesellschaftliche Kontext fehlt. Die omnipräsente Existenzangst, der ökonomische Zerfall ganzer Landstriche, der das Medikament bei Lil Uzi Vert und Lil Xan zum Betäubungsmittel einer verlorenen Generation macht, kommt in den Texten deutschsprachiger Rapper nicht vor.

"Popp' ne Xanny“ ist da - mit wenigen Ausnahmen - eine von Sinn und Kontext entleerte Floskel, ein totes Zeichen - ein RTL2-Remake von "Fear and Loathing in Las Vegas", gedreht mit Teenie-Müttern in Bieitigheim-Bissingen. Oder noch viel schlimmer: Wie der YouTuber und Hamburger Rapper Lil Lano im Interview mit PULS spekuliert, könnte alles auch ein ziemlich großer Fake sein:

"Alle deutschen Rapper schauen momentan krass nach Amerika und machen die Trends nach. Ich tue das ja auch. Diese Floskel 'Popp ne Xanny' verbreitet sich wie ein Lauffeuer, heute muss jeder einfach mal 'Xanny' gesagt haben. Der hat das gerappt, dann muss ich das auch. Ich glaube, dass die wenigsten das wirklich konsumiert haben. Es ist ja ehrlich sehr schwer an dieses Mittel ranzukommen. Ich glaube nicht, dass alle das wirklich nehmen. Die meisten deutschen Rapper sind da einfach am Blenden."

Lil Lano - im Interview mit PULS

Deutschraps neue Generation nutzt “Popp' ne Xanny!” ohne Geschichte und Herkunft: Der talentierte Berliner Yung Cobain, gerade von anerkannten HipHop-Journalisten als Rapper der Zukunft gepriesen, hat seinen Kopf im Artwork für einen Song auf eine Xanax-Tablette montiert. Auch er poppt die Xannys in seinen Texten. Im Interview bleiben doch einige Fragen offen.

"Was Xanax ist? Hm … (zögert), das ist doch ein Medikament, das man sich verschreiben lassen kann? Das wirkt … so beruhigend, oder? Nimmt man bei Depressionen? Ich habe nicht so viele getaket. Von Xanax zu rappen, heißt ja nicht, jeden Tag auch Xanax zu nehmen."

Yung Cobain - im Interview mit PULS

Popp' ne Xanny, Bitch!

Ein letztes Mal meldet sich Carla aus der Entzugsklinik bei uns. Bevor der Kontakt zu ihr abbricht und wir keine Informationen mehr über ihren Zustand und den Fortlauf der Therapie von ihr bekommen, schickt sie uns noch eine Sprachnachricht.

"Das will wirklich niemand erleben. Der Entzug gerade lässt sich einfach mit nichts vergleichen. Xanax war wie ein Ausknopf, als schaute man einen Horrorfilm und könnte einfach den Fernseher ausschalten. Es wirkte einfach so gut am Anfang, das ist wie Wolke 7 und der Himmel auf Erden. Ich wollte das immer wieder haben. Immer wieder. Das war ein geiles Gefühl, zu wissen: Ich muss nur zwei, drei Pillen nehmen und alle Probleme sind weg. Man vergisst sie einfach. Schläft. Die Welt ist aus. Aber man muss die Dosis eben immer weiter steigern, um das zu spüren. Je höher die Dosis ist, desto schlimmer ist der Fall danach, wenn die Wirkung nachlässt. Wenn die Wirkung nachlässt, ist es die Hölle auf Erden."

Carla - Sprachnachricht aus der Tagesklinik

Information: Die genannten Rapper - außer Yung Cobain und Lil Lano - lehnten die Interview-Anfragen ab.

Sendung: Plattenbau, 30. August - ab 19 Uhr