Presse - Intendant


0

SZ-Interview "Politik würde flache Inhalte kritisch sehen"

Seit drei Monaten ist Ulrich Wilhelm BR-Intendant. Gespräch über die Zukunft des öffentlich-rechtlichen Rundfunks in Deutschland. Interview: Christopher Keil (Süddeutsche Zeitung vom 21. Mai 2011).

Stand: 18.10.2011

SZ: Herr Wilhelm, der Marktanteil für das jüngere Publikum beim Eurovision Song Contest war so hoch wie kaum bei Fußball-Länderspielen. Die ARD kooperiert beim ESC bereits zwei Jahre mit dem Privatsender Pro Sieben. Zwei der drei Moderatoren des Abends stammen vom Privatfernsehen. Ist das der Weg, den das Erste künftig einschlagen muss, um sich bei den Jüngeren wieder ins Gespräch zu bringen?

Ulrich Wilhelm: Deutschland und die ARD haben sich gut präsentiert mit dem ESC-Finale. Die Entscheidung, mit Pro Sieben zu kooperieren, fiel vor meinem Amtsantritt. Ich werde das nicht kritisieren. Wir werden weitere Kooperationen erneut im Kreis der Intendanten diskutieren. Unterhaltung ist unverzichtbar für ein Vollprogramm, sie steht aber nicht im Mittelpunkt unseres Profils. Im Mittelpunkt steht das, was die kommerziellen Anbieter auf dem Fernseh- und Radiomarkt so nicht leisten können: Information, Bildung, Wissen, Erklärung dessen, was in unserer Gesellschaft passiert.

SZ: Als die Entscheidung fiel, dass ARD und ZDF die Prinzen-Hochzeit in London über Stunden parallel live übertragen würden, haben Sie als einer von zwei ARD-Intendanten dagegen argumentiert. Waren die Kollegen überrascht, dass Sie nicht an die zu erwartende hohe Quote dachten, sondern daran, dass es reicht, wenn ein öffentlich-rechtlicher Sender das royale Ereignis überträgt und der andere sein Programm normal weiter fährt und damit die Angebotsvielfalt sichert?

Wilhelm: Das wurde als legitimer Debattenbeitrag aufgenommen. Ich komme aus einem Umfeld, in dem ich sehr intensiv über gesellschaftspolitische Fragestellungen nachgedacht habe. Eine Frage bewegt mich seit Jahren am meisten, und in diesen Kontext sehe ich auch unsere Arbeit gestellt: Können wir immer dafür sorgen, dass eine ausreichend große Zahl von Bürgerinnen und Bürgern das jeweilige Geschehen verlässlich beurteilen kann? Und das in einer Zeit, in der Entwicklungen weltweit immer schneller ablaufen, in der arbeitsteilige, alternde Industriegesellschaften sehr viele Konflikte auf friedliche und ausgleichende Weise lösen müssen?

SZ: Das heißt?

Wilhelm: Demokratie beruht auf der Annahme, dass Staatsbürger mündige Entscheidungen treffen, dass sie wohl informiert sind. Die Vermittlung dieser Kenntnisse müssen Medien leisten. Bürger müssen Alternativen abwägen können, Signale senden an die Politik, an die Wirtschaft und die Wissenschaft, was sie mittragen. Ohne fundierte Debatte steht kein tragfähiger Konsens, sondern es entstehen erratische Entscheidungen.

SZ: Die 20- und 30-Jährigen orientieren sich heute eher in sozialen Netzwerken als bei ARD und ZDF.

Wilhelm: Aber soziale Netzwerke alleine können das nicht leisten. Ich bin überzeugt: Nur die Gesamtheit aus Qualitätszeitungen und öffentlich-rechtlichen Sendern arbeiten das Geschehen umfassend auf, beispielsweise das, was auf den Finanzmärkten passiert, oder wie sich neue europäische Konflikte aufbauen. Interesse wecken, erklären, ein Forum schaffen - darin liegt unser wichtigster Auftrag, gemeinsam mit und nicht gegen die Zeitungen.

SZ: Sie wollen den Informationsanteil deutlich erhöhen? Wie?

Wilhelm: Das geht zum einen über unsere Digitalkanäle und Infowellen, zum anderen natürlich über eine stärkere Gewichtung im Vollprogramm und über Online-Angebote für den wachsenden Teil der Bevölkerung, der sich unabhängig von Sendezeiten im Internet informiert.

SZ: Verstehen Ihre Kollegen, wovon Sie sprechen? Intendanten sprechen sonst auch über Information, aber dabei geht es oft um digitale Studiotechnik, Moderationsstile, Auslandsnetze. Sie fordern eine klare, radikale Schwerpunktverlagerung auf die Information, Sie fordern ein Programm, das ausdrücklich nicht unter Quotengesichtspunkten entwickelt wird. Haben Sie Mitstreiter?

Wilhelm: Habe ich. Die Kolleginnen und Kollegen beschäftigt das Thema genauso wie mich. Das sind ja auch keine neuen Erkenntnisse. Neu ist die höhere Geschwindigkeit, in der alles abläuft. Und durch die globale Vernetzung wird Politik, wird Wirtschaft immer schwerer zu durchschauen. Das heißt, der Aufwand, den wir treiben müssen für die angestammte Aufgabe, den Menschen die Welt zu erklären, wird größer. Wir werden dafür auch einen wachsenden Teil unserer Ressourcen benötigen.

SZ: Dass es eine Quotenfixierung gibt, haben Sie nicht bemerkt?

Wilhelm: Ich verstehe das so: Quote darf nie Selbstzweck sein, nie der eigentliche Gegenstand unseres Bemühens.

SZ: Den Eindruck gewinnt man aber.

Wilhelm: Quote ist eine dienende Größe. Entscheidend ist der Inhalt. Ich rede nicht einem reinen Informationsprogramm das Wort. Jeder Mensch will sich auch entspannen, ausruhen. Zum Profil eines Vollprogramms gehören selbstverständlich Sport und Unterhaltung.

SZ: Die Zahl der Medienangebote steigt, die Nutzergewohnheiten verändern sich. Wie wichtig ist Quote noch?

Wilhelm: Jeder Kreative will lieber vor vollen als vor leeren Rängen spielen. Das ist im Theater und im Kino so. Und auch wir wollen, dass unsere Programme von vielen Menschen gesehen werden. Eine Opernübertragung kann natürlich nie so viele Zuschauer erreichen wie ein WM-Halbfinale der deutschen Mannschaft. Trotzdem ist es wichtig, immer wieder auch Oper und Theater auf unseren Sendern zu übertragen. Ziel muss sein, das jeweilige Potential zu erreichen, das sich dafür interessiert. Und wenn eine Sendung innovativ und gut gemacht ist, wird sie ihr Publikum finden. Die Sendung mit der Maus oder der Tat ort haben beides: Publikum und Kultcharakter. Sie sind erfolgreich und unverwechselbar öffentlich-rechtlich. Hoher Anspruch und hohe Reichweite sind kein Widerspruch.

SZ: Intendanten begründen die Ausrichtung auf Quote am Ende damit, dass die Politik die Gebühren kürzen würde, sollten die öffentlich-rechtlichen Programme etwa unter die Grenze von zehn Prozent im Jahresmarktanteil rutschen. Ist das so?

Wilhelm: Die Politik würde es ganz eindeutig auf Dauer kritischer sehen, wenn die Inhalte flacher werden, um weiterhin in der Reichweite ganz oben zu stehen. Sie ist doch darauf angewiesen, dass öffentlich-rechtlicher Rundfunk inhaltlich anspruchsvoll bleibt und das öffentliche Geschehen nachhaltig und umfassend abdeckt.

SZ: Braucht man eigentlich noch zwei öffentlich-rechtliche Vollprogramme und neun regionale?

Wilhelm: Ja. Deutschland hat eine der stabilsten Demokratien und Gesellschaften der Welt. Das ist eine große Leistung unseres Grundgesetzes und vieler Institutionen. Es liegt aber auch daran, dass die Qualität der Berichterstattung - sowohl die elektronische, als auch im Print - seit Jahrzehnten sehr hoch ist. Man würde einen hohen Preis zahlen, würde man nach dem Motto handeln: weniger tut's auch. Vielfalt und Pluralismus braucht einen lebendigen Resonanzboden, übrigens auch bei den Qualitätszeitungen. Wenn eine Säule der Medien bricht, leidet das gesamte Angebot. Deshalb müssen wir auch unseren Beitrag leisten, die Qualitätszeitungen in Deutschland zu stützen.

SZ: Wie soll das gehen?

Wilhelm: Es wäre nicht angemessen, eine elektronische Zeitung zu machen, die identisch ist mit den Online-Angeboten großer überregionaler Zeitungen.

SZ: Würden Sie sagen, dass ARD und ZDF derzeit presseähnliche Angebote ins Internet stellen?

Wilhelm: Es gibt Befürchtungen der Verleger, die ich verstehen kann und über die wir im Gespräch sind. Wir konzentrieren uns im Netz auf die programmbegleitende Seite. Wichtig ist, dass alle ihre Funktionen behalten können. Ohne die Verbreitung durch Fernsehen und Radio hätte eine investigative Enthüllung im Print keine so große Kraft. Umgekehrt vertieft Print die Berichterstattung. Eine Zeitung mit 40 Seiten kann weit mehr Informationen liefern als eine 15-minütige Nachrichtensendung. Das Agenda Setting geht dafür wieder stärker über die elektronischen Medien.

SZ: Herr Wilhelm, Sie sind drei Monate im Amt. Sind Sie, was Ihre Haltung betrifft, immer noch mehr politischer Analyst als Intendant?

Wilhelm: Ich glaube, dass ich ohne längere Umstellungszeit angekommen bin. Ich habe die Veränderungen in den Medien fast zehn Jahre selbst als Journalist erlebt und in den Jahren danach sehr viele Gespräche, auch über Deutschland hinaus, mit Medienmachern geführt.

SZ: Wenn man das, was Sie, wie auch die Rundfunkgesetze, als Kernauftrag von ARD und ZDF definieren, konkret auf Nachrichtensendungen überträgt, was müsste sich ändern?

Wilhelm: Was in allen Gesprächen als Anliegen an die Medien immer wieder kommt: Die Nachrichtenzyklen in Deutschland werden als zu hektisch empfunden. Dass ein Thema für wenige Tage ein Aufregerthema wird, dem man in Zeitungen, Zeitschriften, im Radio und im Fernsehen gar nicht entgehen kann, dieses Thema dann aber genauso schnell wieder fallengelassen wird, das nervt immer mehr Menschen. Wir müssen nachhaltiger an den wichtigen Themen dranbleiben, die langfristigen Entwicklungen und Hintergründe solide aufarbeiten und uns fragen: Was kann dabei eine Talkshow leisten, ein Themenabend, ein Brennpunkt, ein Expertengespräch oder eine Dokumentation?

SZ: Sie stellen den Inhalt über die Struktur.

Wilhelm: Ich halte nichts davon, zu sagen: Weil wir bestimmte Talkshow-Formate schon immer hatten, werden sie weitergeführt. Auch das ist eine dienende Größe. Zeitungen stellen doch auch ihr Layout und ihren Aufbau immer wieder um - und mit Recht.

SZ: Es fällt auf, dass, beginnend bei den Privaten, große Senderfamilien entstehen. Das ZDF promotet gerade den Jugendkanal ZDF Neo und den ZDF Pop-kanal Kultur, in der ARD wird über einen Jugendsender gestritten. Braucht der öffentliche Rundfunk Senderfamilien? Ist das nich t auch maßloser Umgang mit Gebühreneinnahmen?

Wilhelm: Die Senderfamilien entstehen, weil mehr Special Interest entsteht. Wenn das ein sich Austoben auf immer mehr Kanälen wäre, würde ich das kritisch sehen. Tatsächlich liegt es im Trend der Individualisierung. Wenn sie sich die Produktpaletten von BMW oder Mercedes vor 30 Jahren und heute ansehen, dann ist auch dort eine immer größere Vielfalt der Modelle entstanden. Anderes Beispiel: Wie viele zusätzliche Print-Titel sind entstanden?

SZ: ARD und ZDF haben sich nie beschränkt. Sie haben sich wie normale Marktteilnehmer verhalten, allerdings mit geliehenem Kapital. Sind zweimal drei digitale öffentlich-rechtliche Spartenkanäle nötig?

Wilhelm: Zu einer ehrlichen Rechnung gehört auch: Wir bewältigen die Herausforderung der digitalen Revolution mit eingefrorenen Etats.

SZ: Man hat einen anderen Eindruck.

Wilhelm: Da ist auch Kampfgeschrei dabei. Es gibt einen Auftrag, den das Grundgesetz und unsere Gesellschaft dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk gibt. Und ich glaube, dass dieser Auftrag zeitgemäß bleiben wird. Diesen Auftrag müssen wir erfüllen und zwar über die technischen Verbreitungswege, über die wir die Bürger erreichen. Ich glaube, dass sich die kommerziellen Anbieter um vieles gar nicht kümmern, weil sie es nicht refinanzieren können. Langzeitdokumentationen wird es nur bei uns geben oder gar nicht. Und vieles ist bereits produziert und wird dann in einem digitalen Kanal weiter genutzt.

SZ: ARD und ZDF werden aber nicht alles finanzieren können.

Wilhelm: Das ist richtig. Die knappe Finanzdecke wird das nicht zulassen, es wird in den nächsten Jahren immer zu einer Prioritätendiskussion kommen. Wir sind gut beraten, dann auf unseren Kernauftrag zu gehen.

SZ: Sport gehört zum Kernauftrag. Übertragungen im öffentlich-rechtlichen Programm von Olympia und jeder Fußball-WM sind politisch ausdrücklich gewünscht. Sie sind als BR-Intendant der Sportintendant der ARD. Wenn der vor Ihrem Amtsantritt verfügte Boxvertrag über 53 Millionen Euro scheitert, und so sieht es nach der Ablehnung durch den WDR-Verwaltungsrat gerade aus, wäre Ihnen das recht?

Wilhelm: Boxen hat vor allem im Osten Deutschlands eine große Fangemeinde. Wir werden mit den Rundfunkräten bei den anstehenden Entscheidungen in engem Austausch bleiben.

SZ: Die ARD würde viel sparen, wenn sie mal eine Fußball-WM dem Pay-TV in Deutschland überließe oder den kommerziellen Anbietern im Free TV.

Wilhelm: Dann würden Sie aber Vorrunden-Spiele wie Chile gegen Kamerun nicht mehr frei empfänglich sehen. Die ganze Bandbreite der Spiele würde Ihnen Sat 1 oder RTL während einer WM nicht bieten. Aber auch solche Spiele machen den Reiz einer WM aus. Sport ist für die Gesellschaft wichtig, für die Identität des Landes. Er ist wichtig für den Zusammenhalt der unterschiedlichen Schichten und Landesteile. Die Bundesliga ist wichtig, weil sie die Identität ganzer Regionen stärkt. Der Aufstieg Augsburgs ist für Schwaben eine große Sache. Und dass erstmals die drei großen bayerischen Städte - München, Nürnberg, Augsburg - in der Fußball-Bundesliga vertreten sind, ist auch für Bayern eine große Sache. Ein Derby ist mehr als nur ein normales Punktspiel. Sport ist unverzichtbar.

SZ: Herr Wilhelm, vermissen Sie Berlin, das Kanzleramt, das politische Leben überhaupt kein bisschen?

Wilhelm: Mir hat meine Aufgabe als Regierungssprecher große Freude gemacht trotz aller Belastungen, die das mit sich brachte. Aber ich habe mich sehr bewusst für diese neue Aufgabe entschieden, deshalb sehne ich mich nicht zurück. Aber ich interessiere mich unverändert.


0