Unkontrollierte Aggression und Wutausbrüche: In den Zeiten von Kita- und Schulschließungen hat Julia Ringler täglich Kämpfe mit ihrem Sohn ausgefochten. Gerade die Doppelbelastung aus Mutter- und Ersatzlehrerinnenrolle hat ihr und ihren Kindern zu schaffen gemacht. Dabei hatte es die Nürnbergerin, Mitglied im Verein Initiative Familien, noch relativ einfach. Als Informatikerin konnte sie abends arbeiten, ihr Mann hatte ein Büro. All das hat die Tücken von Home Schooling und Home Office unter einem Dach entschärft.
Ringlers Sohn geht es mittlerweile besser, die Wutausbrüche sind vorbei, er hat auch angefangen, sich besser in der Schule zurechtzufinden. Wie viele Kinder. Studien deuten an: Die großen Belastungen, die Lockdowns und Schulschließungen gerade für die psychische Gesundheit junger Menschen bedeutet haben, nehmen wieder ab.
Psychischer Druck nimmt ab – aber nicht für alle gleichermaßen
Ob Krankenkassenerhebungen oder Befragungen wie in der Copsy- oder der COH-FIT-Studie, sie alle deuten an: Die schlimmsten Belastungen nehmen zwar wieder ab, sind aber noch immer nicht auf das Niveau von vor der Pandemie gesunken. Und gerade bei gesellschaftlich und wirtschaftlich weniger gut gestellten Kindern und Jugendlichen ist die Belastung noch immer groß, warnen Fachleute. Viele Familien sind aus der Pandemie direkt in Krisenängste durch Inflation und Ukraine-Krieg geschlittert.
Die Schere in der Gesellschaft würde weiter aufgehen, warnt Christoph Correll, Direktor der Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Kinder- und Jugendalters an der Charité in Berlin: "Wenn Eltern jetzt in ökonomischen Druck geraten, gerät natürlich das ganze familiäre System unter Druck, was dann auch an Kinder und Jugendliche weitergegeben wird."
In der Grundschule Berg am Laim im Münchner Osten macht sich das bemerkbar. Schulleiter Michael Hoderlein beobachtet, "dass die Kinder in sich gekehrt sind, dass sie einen traurigen Eindruck machen." Viele seiner jüngsten Schülerinnen und Schüler würden viele Sorgen von zu Hause mitbringen – und hätten auch noch mit den Folgen der langen und wiederkehrenden Kita-Schließungen zu kämpfen.
Verhaltensauffälligkeiten und fehlende Gruppenerfahrung
Während bei älteren Kindern und Jugendlichen in den vergangenen Jahren Depressionen, Angst- und Essstörungen zugenommen haben, reagieren jüngere Kinder im Grundschulalter meist anders auf psychischen Druck, erklärt Gerd Schulte-Körne. Er ist Direktor der Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie der Universität München: Jüngere Kinder reagieren demnach "hauptsächlich mit Ängsten, aber auch mit Verhaltensänderung, mit Aggression, mit Wut, mit Verzweiflung".
Dazu kommt, dass sich viele Kinder in den vergangenen Jahren nicht in Kita- und anderen Gruppen ausprobieren konnten. "Wenn das jetzt in so einer zentralen Entwicklungsphase fehlt, dann kann das dazu führen, dass das – wenn sie in einen strukturierten Rahmen wie jetzt in die Schule kommen – schlechter funktioniert", sagt Schulte-Körne. Das gelte gerade bei den Kindern, die von vornherein unruhiger oder aktiver veranlagt sind.
Schulen brauchen mehr Zeit
Wie nimmt man aufeinander Rücksicht, wie setzt man sich durch, wie steckt man auch mal zurück, wie geht man auch mit Frust um? All das müssten viele Kinder, gerade die jetzige Erstklässler-Generation, noch lernen, sagt Schulleiter Hoderlein. Bevor es überhaupt erst ans Lernen von Lesen, Schreiben und Rechnen gehe, müssten die Kinder fitgemacht werden für den Schulalltag. Und das brauche Zeit.
Bayerns Kultusministerium habe das Problem erkannt und nehme es sehr ernst, schreibt ein Sprecher auf BR-Anfrage. Es gebe Förderprogramme wie "gemeinsam.Brücken.bauen" oder "Schule öffnet sich". Etwa 1.850 Beratungslehrkräfte und 1.000 Schulpsychologen unterstützen das System der staatlichen Schulberatung.
Schulleiter Hoderlein entgegnet: Drei Fachleute stehen damit mehreren Münchner Schulen jeweils für eine Stunde pro Woche zur Verfügung. Allein an Hoderleins Schule sind etwa 600 Kinder. Dazu schlägt gerade an Grundschulen der Lehrkräftemangel besonders hart zu Buche, obendrauf kommen viele Krankheitsfälle im Winter. In dieser für Kinder und Familien genauso wie für die Lehrkräfte schwierigen Zeit ist von den Schulen viel Kraft und Kreativität gefragt.
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