Simon Thibault ist überzeugt: „Wenn man ein Handwerker ist, wird das auch die sprachlichen Fähigkeiten verbessern.“ Genau das konnte nämlich ein Team um den Neurowissenschaftler vom Centre de Recherche en Neurosciences de Lyon kürzlich zeigen – anhand von Probandinnen und Probanden, die handwerkliche sowie sprachliche Aufgaben bearbeiteten, während ihre Gehirnaktivität mit einem Kernspintomographen gemessen wurden. Dabei entdeckte das Team, dass beide Arten von Aufgaben unter anderem das gleiche Gehirnareal in den sogenannten Basalganglien aktivierten. Die Forschungsergebnisse sind im Fachmagazin „Science“ erschienen.
Handwerkliches und sprachliches Geschick hängen zusammen – und bedingen einander
Wenn wir sprechen, aktiviert das große neuronale Netzwerke im Gehirn, die alle Sinne betreffen. Was macht Ihr Gehirn beispielsweise, wenn Sie nur das Wort „Apfel“ lesen? Es aktiviert alle sensorisch-motorischen Empfindungen im Gehirn, die auch dann aktiviert werden, wenn wir tatsächlich einen Apfel essen: die Wahrnehmung seines Geschmacks, das Geräusch des Reinbeißens, wie er sich in der Hand anfühlt.
Auch wenn wir einen Satz lediglich hören – zum Beispiel: „Ich gehe zur Tafel und schreibe etwas“ – und wenn wir wirklich zur Tafel gehen und etwas schreiben, sind im Gehirn die gleichen Areale aktiviert. In diesem Fall fällt die Aktivierung zwar schwächer aus, ist aber für Neurowissenschaftlerinnen und Neurowissenschaftler trotzdem gut messbar.
Handwerk und Sprache im Gehirnscanner
Das Team um Simon Thibault wollte diesen Zusammenhang genauer erforschen und ließ zu diesem Zweck Menschen Aufgaben machen, während sie sich in einem Gehirnscanner befanden. Einerseits hantierten sie mit Werkzeugen, andererseits führten sie auch Sprachübungen durch. Thibault fand heraus, dass Menschen, die besser im Umgang mit Werkzeugen sind, auch besser darin sind, schwierige und verschachtelte Sätze so wie genau diesen Satz zu verstehen.
Der Gehirnscanner zeigte, dass beide Arten von Aufgaben unter anderem das gleiche Gehirnareal in den sogenannten Basalganglien aktivierten. Dabei handelt es sich um Regionen, die sich relativ tief im Zentralgehirn befinden.
Schachtelsätze interpretieren und das Hantieren mit Bolzen mittels einer Zange
Während ihre Gehirnaktivität gemessen wurde, haben die Versuchsteilnehmerinnen und -teilnehmer zusätzlich ein Training absolviert, das ihre Sprachfähigkeit verbessern sollte. Dabei ging es darum, Schachtelsätze zu interpretieren und schnell Bezüge herzustellen. Andere Probandinnen und Probanden übten motorische Fertigkeiten und haben mit Zangen kleine Bolzen hin- und hergesteckt.
Am Ende überprüften die Forschenden, wie gut alle Probandinnen und Probanden in beiden Aufgaben waren – auch in der Aufgabe, die sie gar nicht geübt hatten. „Wir haben die Versuchs-Teilnehmenden in Sprache trainiert und haben anschließend eine Verbesserung in ihrem Werkzeug-Geschick gefunden”, sagt Simon Thibault. Komplexe Sprache trainieren, und dann geschickter mit Werkzeugen umgehen können? Die Forschenden gehen davon aus, dass dies mit der menschlichen Evolution zusammenhängen könnte.
Verdanken wir der menschlichen Evolution unser Geschick für Handwerk und Sprache?
„Das Gehirn hat sich im Laufe der menschlichen Evolution dank unserer Fähigkeit, komplexe Werkzeuge zu benutzen, verändert“, erklärt Simon Thibault. „Weil wir komplexere Werkzeuge benutzt haben, hat sich dann vielleicht die neue neuronale Basis für neue kognitive Funktionen entwickelt – darunter die Sprache.“
Als unsere Vorfahren angefangen haben, Werkzeug zu nutzen, waren fortgeschrittene Denkprozesse nötig, das Planen, Kontrollieren und Ausführen komplexer Bewegungen. Parallel dazu haben sie wohl auch die Voraussetzung und Fähigkeit zum Sprechen erworben.
Zwischen Sprache und Werkzeugnutzung gibt es Gemeinsamkeiten
Sofia Valk, Wissenschaftlerin am Max Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften, erklärt, dass Sprache etwas mit motorischen Abläufen und Werkzeugnutzung gemeinsam hat: „In der Sprache gibt es den Satzbau, eine Struktur. Es gibt das Verb, das Subjekt, das Objekt – und mit Handlungen ist es genauso. Ein Beispiel wäre der Prozess des Haarewaschens: Dazu muss ich erst meine Haare nass machen, das Shampoo öffnen, das Shampoo auf die Haare geben. Wenn ich das in einer falschen Reihenfolge mache, funktioniert es nicht.“
Ähnliches gelte auch für die Sprache – Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nennen das Syntax. Die Syntax beschreibt Regeln, wie Sätze aus einzelnen, grundlegenderen Bestandteilen gebaut sind. Und eine Syntax gibt es auch in Handlungsabläufen: Sie zerlegt und ordnet etwa eine Werkzeug-Aufgabe in einzelne Schritte. Laut den Forschungsergebnissen des Teams um Simon Thibault ist das gleiche Hirnareal sowohl für die grammatikalische Syntax als auch für die motorische Syntax zuständig.
Sprachtherapie mit Werkzeugen?
Sofie Valk hofft, dass dieser Zusammenhang auch für Therapien interessant sein könnte. Sie sieht mögliche Einsatzbereiche beispielsweise in Rehakliniken: Dort könnten öfters Übungen kombiniert werden, um motorische Defizite oder Sprachdefizite wieder aufzubauen. „Nach einem Schlaganfall kann man sich vorstellen, dass, wenn sich die beiden Sachen einander verbessern, dass man das vielleicht kombinieren könnte.“
Das Team um Simon Thibaut erforscht diesen Zusammenhang jetzt mit Kindern, die eine Sprachstörung haben, ob ihnen durch Training mit Werkzeugen weitergeholfen werden kann. Und einige Versuche zur Sprachtherapie mit Werkzeugen gibt es bereits auch in Deutschland. Die Hoffnung dabei ist, dass die Arbeit mit Werkzeugen auch das Kommunizieren mit Sprache wieder möglich macht.
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