Archivbild: Zwei Mitarbeiter in orange-farbenen Anzügen blicken in den mit Wasser befüllten Reaktorbehälter von Isar 2.
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Wie kann man Atomkraftwerke nach Bedarf ab- und anschalten, so dass sie eine "Reserve" bieten?

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Warum das Herunter- und Hochfahren der AKWs kein Problem ist

Die zwei süddeutschen Atomkraftwerke Isar 2 und Neckarwestheim sollen als Reserve über den Winter hinweg bis April auf "Stand-by" gehalten werden. Dabei muss zwar einiges beachtet werden, doch technisch ist der Reservebetrieb möglich, sagen Experten.

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Die Atomkraftwerke Isar 2 und Neckarwestheim Ende des Jahres abschalten und dann ein paar Wochen später wieder hochfahren - wenn die Situation am Strommarkt im Winter angespannt wird. So sehen die Pläne von Wirtschaftsminister Robert Habeck aus.

AKWs werden auch im Normalbetrieb runter- und hochgefahren

Dieser Plan ist technisch möglich, sagt Uwe Stoll von der Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit (GRS) im BR-Interview. Denn Atomkraftwerke werden regelmäßig, auch im Normalbetrieb, heruntergefahren. "Das findet standardmäßig einmal im Jahr sowieso im Reaktor statt", so Stoll. Dann muss nämlich ein Teil der Brennelemente ausgetauscht werden.

In den Reaktoren sind Brennelemente in Betrieb, die ein unterschiedliches Alter haben, so Uwe Stoll: "Manche sind vier Jahre alt, manche drei Jahre, manche erst zwei und manche ein Jahr alt. Und dann wird, wenn ich im normal durchgehenden Betrieb bin, immer ein Viertel dieser Brennelemente ausgetauscht." Zugleich wird dann der Reaktor auch überprüft und anschließend wieder hochgefahren. So ähnlich könnte man sich den "Stand-by"-Betrieb im Winter 2023 auch vorstellen. Zum Ende des Jahres werden die Reaktoren heruntergefahren und dann - bei Bedarf - wieder hochgefahren.

Herunterfahren geht nicht sofort

Das Herunterfahren geht langsam vor sich, die Leistung des Kernkraftwerks wird schrittweise reduziert, so der Experte. Das geht nur, indem man die Kernspaltung beendet - das geht über zwei Wege.

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Ein Atomkraftwerk erzeugt Leistung, indem das Uran in den Brennstäben gespalten wird. Das übernehmen Neutronen. Doch bei jeder Spaltung des Uran entstehen zwangsläufig in der physikalischen Reaktion neue Neutronen. Deren Menge muss also im Normalbetrieb genau kontrolliert werden, denn sonst kommt es zu einer unkontrollierten Kettenreaktion, so Stoll: "Also man spricht immer von einem Zyklus. Ich muss immer genauso viel Neutronen für die Spaltung haben, wie im Zyklus vorher und das regele ich unter anderem mit den Steuerelementen."

Dazu gibt es "Steuerelemente", die die Brennelemente kontrollieren. Sie können teilweise oder auch ganz in den Reaktor eingelassen werden. "Und wenn ich die ganz einwerfe, dann fangen die einfach die ganzen Neutronen weg, und es wird kein Uran mehr gespalten", sagt Uwe Stoll. Bei einer Abschaltung wird dann zur Sicherheit noch Borsäure ins Wasser eingelassen, das ebenfalls Neutronen auffängt. So kommt die Kernspaltung zum Erliegen.

Die Anlage ist dann aber immer noch heiß, rund 290 Grad. Ziel ist es, den Reaktor auf 50 Grad abzukühlen, dann ist er "kalt heruntergefahren".

Claudia Kemfert
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Claudia Kemfert

Die Besonderheiten bei "Stand-by"-Betrieb

Der "Stand-by"-Betrieb für die Wintermonate 2023 lässt sich technisch umsetzen, weil einige Schritte, die nach einem kompletten Herunterfahren des AKWs fällig werden, zunächst nicht unternommen werden.

Bei der endgültigen Abschaltung würde der Reaktor heruntergefahren und abgekühlt. Dann würde der Reaktordeckel abmontiert, alle Brennelemente in das Brennelemente-Lagerbecken überführt und dort weiter abgekühlt. Der Reaktor hätte dann keinen Brennstoff mehr, müsste nicht mehr gekühlt werden. Im nächsten Schritt würde dann auf den Oberflächen des Reaktors im Kühlkreislauf die Radioaktivität chemisch reduziert, so Stoll.

Bei der "Stand-by"-Lösung höre dieser Prozess an der Stelle auf, wo der Reaktor kalt heruntergefahren sei, sagt Uwe Stoll. "Das heißt, der Deckel bleibt drauf, die Brennelemente bleiben im Kern und ich lasse das Kraftwerk so stehen. Bei Bedarf fahre ich es dann wieder an. Also, so ist die Vorstellung, die ich gestern in der Pressekonferenz gehört habe."

Zwei Tage bis eine Woche dauert das Hochfahren

Bis ein heruntergefahrenes AKW wieder läuft, dauert es ein paar Tage, sagt Uwe Stoll. Vereinfacht gesagt: Zunächst muss der Reaktor wieder auf über 260 Grad erwärmt werden, dann wird die Borsäure im Kühlmittel reduziert und die Steuerstäbe aus dem Reaktorbecken gezogen.

Im Winter kann es auch sein, dass man den Kühlturm mit erhitzen müsste, so Stoll: "Bei Isar 2 kennt ja jeder diesen riesigen Kühlturm. Wenn ich jetzt mitten im Winter bei minus 20 Grad bin, dann ist der Kühlturm eingefroren. So kann ich mein Kraftwerk nicht anfahren, also müsste ich mir irgendwas überlegen, wie ich erstmal den Kühlturm auftaue." Wenn alles optimal laufe, schätzt der Experte, dass Isar 2 innerhalb von zwei Tagen bis einer Woche wieder hochgefahren werden könnte.

Doch wenn Isar 2 oder Neckarwestheim im Winter tatsächlich wieder hochgefahren werden sollten, lohnt es sich nur, wenn sie auch bis Ende April durchlaufen. Für ein mehrmaliges Hoch- und Herunterfahren sei der Aufwand zu groß, so Stoll. Die Leistung selbst könne aber geregelt werden.

Bedienmannschaften sind noch vor Ort

Eine weitere Frage, die sich beim "Stand-by"-Betrieb stellt, ist die der Bedienmannschaften. Hier macht sich Uwe Stoll wenig Sorgen, denn auch ein abgeschalteter Reaktor müsse ja weiter bedient werden, beispielsweise weil die Brennelemente jahrelang gekühlt werden müssen. "Die Mannschaften gehen nicht zum 1. Januar." Für den "Stand-by"-Betrieb müsste aber die Mannschaft vollzählig sein.

Fazit: "Stand-by" ist technisch möglich

Rein technisch ist es möglich, die AKWs Isar 2 bei Landshut in Niederbayern und Neckarwestheim in Baden-Württemberg zum Ende des Jahres kalt herunterzufahren und dann im Winter 2023 wieder für ein paar Wochen hochzufahren.

Ob das sinnvoll ist, bezweifeln manche Experten. So zum Beispiel Eva Hauser von der Hochschule für Technik und Wirtschaft des Saarlandes in Saarbrücken: "Dieser Reservebetrieb der zwei ab Januar stillzulegenden Atomkraftwerke wirft sehr viele Fragen auf: Neben rein technischen Fragen der Schnelligkeit und Einsatzfähigkeit der im Nachbetrieb befindlichen Atomkraftwerke besteht zusätzlich die Notwendigkeit, diese Reserveeinsätze auch genehmigen zu lassen. Setzt man dies in Verhältnis zur sehr geringen Anzahl an 'really-worst-case-Stunden', in denen sie eventuell gebracht werden könnten, erscheint diese Entscheidung zumindest einmal heikel."

Alle Experten sind sich einig: Die Politik hätte schon vor Jahren konsequent die Erneuerbaren Energien ausbauen und für geeignete Stromtrassen durch die Bundesrepublik sorgen müssen. Professor Christian Rehtanz von der Technischen Universität Dortmund: "Das System der elektrischen Energieversorgung wurde durch politischen Druck in den letzten Jahren mehr und mehr auf Kante genäht und durch russisches Gas abgesichert. Wäre die Situation ein paar Jahre später eskaliert, nachdem mehr Kraftwerke endgültig stillgelegt worden wären, wäre eine Absicherung der Versorgung nicht mehr möglich gewesen. Diesen Winter kommen wir gemäß der Sonderanalyse und all der Maßnahmen, wenn sie denn schnell umgesetzt werden, noch einmal mit einem blauen Auge davon."

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