Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine dauert länger als zwei Monate an, weit mehr als fünf Millionen Menschen sind bereits aus der Ukraine geflohen. Die Kämpfe dauern an, die russischen Truppen rücken nur langsam vor. Doch der Kreml musste in den vergangenen Wochen immer wieder auch militärische Rückschläge hinnehmen. Unterdessen erhält die Ukraine Unterstützung aus westlichen Ländern: Erst diese Woche hat der Bundestag für die Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine gestimmt.
Die russischen Truppen konzentrieren sich inzwischen größtenteils im Osten des Landes. Das derzeitige offiziell vom russischen Militär ausgegebene Ziel ist – neben dem Osten – auch den Süden der Ukraine einnehmen zu wollen. Für Politikwissenschaftler Thomas Jäger ist klar: "Russland wird erst zufrieden sein, wenn es die ganze Ukraine eingenommen hat." Aber kann Russland den Krieg tatsächlich noch gewinnen? Gewinnt doch die Ukraine? Oder läuft es auf ein anderes Ende hinaus? Das neue "Possoch klärt" (Video unten) geht der Frage nach: Wie endet der Krieg?
Russland: Strategische und militärische Fehler?
In den vergangenen Wochen haben sich russische Truppen nach ersten Vorstößen doch wieder aus dem Norden des Landes zurückgezogen. Hanna Notte vom James Martin Center for Nonproliferation Studies in Berlin forscht zu Rüstungskontroll- und Sicherheitsfragen, die Russland, den Nahen Osten und deren Überschneidungen betreffen, sowie zu den Auswirkungen dieser auf die Politik Europas und der USA. Dass Russland in diesem Krieg die gesamte Ukraine erobert, sieht sie – zum jetzigen Stand – als sehr unwahrscheinlich an.
"Russland hat in den ersten Wochen extreme Verluste verzeichnet, Fehler begangen also. Es gab zu viele Angriffsachsen in diesem Anfangskrieg, Versorgungsprobleme, logistische Probleme. Die Koordination der russischen Streitkräfte ist nicht gut gelaufen." Hanna Notte, Russlandexpertin
Russland habe schlicht keinen so hochintensiven Krieg in der Ukraine erwartet, erklärt Notte.
Historiker Schulze Wessel: Kampfmoral ukrainischer Armee höher
Martin Schulze Wessel, Professor für Geschichte Ost- und Südosteuropas an der LMU München, sieht die Ukraine aktuell sogar im Vorteil. In der ukrainischen Armee sei die Kampfmoral sehr viel größer, so der Historiker, "weil sie Demokratie verteidigt". Für ihn ist es sogar möglich, dass die Ukraine den Krieg gewinnen könnte.
Die Fokussierung auf weitere Offensiven im Osten der Ukraine gestaltet sich für Russland als schwierig, analysiert die Politikwissenschaftlerin Hanna Notte: Selbst wenn Russland den Osten und den zusätzlich anvisierten Süden der Ukraine einnehmen könnte, würde es für die russischen Truppen sehr schwer, die Bereiche halten zu können. Auch der Professor für Internationale Politik und Außenpolitik Thomas Jäger glaubt, dass die militärischen Kapazitäten Russlands derzeit nicht ausreichen, um die Ukraine vollständig einnehmen zu können: "Russland müsste in der Größenordnung von 500 – 600.000 Soldaten stationiert lassen in der Ukraine, um für Ordnung zu sorgen. Die hat Russland schlicht nicht."
Im Video: Ukraine vs. Russland: Wie endet der Krieg? Possoch klärt!
Russlands Vorstoß in den Süden der Ukraine
Notte vermutet deswegen vor allem wirtschaftsstrategische Gründe hinter dem Vorstoß Russlands in den Süden der Ukraine. Indem Mariupol und Odessa als wichtige Hafenstädte der Ukraine angegriffen werden, würde wirtschaftlicher Handel für die Ukraine erschwert, so die Russlandexpertin weiter. Damit hätte Russland eine weitere Trumpfkarte in der Hand, wenn Moskau sich aus eigener Sicht "aus einer Position der Stärke doch wieder an den Verhandlungstisch zurücksetzen will".
Auch Thomas Jäger vermutet eine Einkesselungstaktik. Auch er geht davon aus, dass der Krieg zwischen Russland und der Ukraine durch eine Vereinbarung enden wird, "weil beide ermüdet sind". Dass eine der beiden Seiten den Krieg gewinnen werde, sei momentan schwierig vorstellbar. Deshalb bleibe nur die Option einer Vereinbarung. "Wie die aussieht und wer größere Vorteile daraus zieht, das allerdings wird im Krieg entschieden", abhängig davon, wie stark Russland vorrücken könne und wie stark die Ukraine verteidigen könne, so Jäger gegenüber BR24.
Russland hat strategische Optionen – mit Risiken
Indes dürften die militärischen Kapazitäten Russlands jedoch nicht banalisiert werden, erklärt die Politikwissenschaftlerin Notte gegenüber BR24. Besonders, wenn eine Niederlage der russischen Armee drohen sollte, ist das Szenario Notte zufolge schwer abzuschätzen. Denn je mehr der russische Präsident Wladimir Putin sich in die Ecke gedrängt fühle, "desto wahrscheinlicher wird es, dass er zu drastischen Mitteln greift". Eine Option, die der Kreml in dem Fall nutzen könnte, ist laut Notte die Generalmobilmachung, die es Russland erlauben würde, alle Wehrfähigen zum Militär einzuziehen.
Die Generalmobilmachung trage für den Kreml Notte zufolge ein "hohes innenpolitisches Risiko". Deswegen schätzt sie dieses Szenario zwar als unwahrscheinlich – jedoch nicht als auszuschließen – ein. Zumal der Kreml dann auch gegenüber der eigenen Bevölkerung statt von einer "Spezialoperation" von einem "Krieg" sprechen müsste.
Unterstützung der Ukraine durch den Westen
Ein Kriegszustand könne Notte zufolge vermittelt werden, wenn der russischen Gesellschaft durch den Kreml schrittweise kommuniziert werde: "die Ukraine ist mehr oder weniger instrumentalisiert durch eine Nato, durch einen Westen, der Russland zerstören will". Denn schon die gegen Russland ausgesprochenen wirtschaftlichen Sanktionen der vergangenen Wochen würden der russischen Bevölkerung als eine Form des Krieges vermittelt werden.
Notte präzisiert: "Nicht nur die Waffen, die wir an die Ukraine liefern, sondern selbst unsere wirtschaftlichen Maßnahmen gegenüber Russland gelten als kriegerische Maßnahmen." Erst in dieser Woche bezeichnete der russische Außenminister Sergej Lawrow Waffenlieferungen der Nato an die Ukraine als berechtigte Angriffsziele und interpretiert darin einen Stellvertreterkrieg der Nato in der Ukraine.
Kommt es zum Atomkrieg? "Unwahrscheinlich"
Den Einsatz von nuklearen Waffen halten jedoch alle drei Experten für sehr unwahrscheinlich. Atomwaffen seien "Defensivwaffen", so Jäger, Russland werde aber nicht angegriffen. Außerdem würde Russland in der Ukraine damit Gebiete zerstören, die es selber einnehmen will. Sollten atomare Waffen im Westen der Ukraine eingesetzt werden, würde Russland Vertrauen einbüßen bei jenen Staaten, die derzeit noch verbal an Russlands Seite stünden, analysiert der Politikwissenschaftler gegenüber BR24.
Verhandlungslösung das wahrscheinlichste Szenario
Das wahrscheinlichste Szenario für das Ende des Krieges scheint derzeit also ein Abkommen zu sein. Selbst der russische Außenminister Sergej Lawrow zeigte sich erst Anfang dieser Woche zuversichtlich, dass "die Unterzeichnung eines Abkommens" zustande komme. Unklar ist bislang jedoch wann, wie und unter welchen Bedingungen das sein könnte. Sowohl Jäger als auch Notte gehen aber davon aus, dass dem Abkommen ein erschöpfender und langwieriger Krieg vorausgeht.
Nach Kriegsende: Mit Putin kein Zurück zur Normalität möglich
Unabhängig von seinem genauen Ausgang hat der Krieg laut Thomas Jäger schon jetzt Folgen für Deutschland und Europa: Russland könne auf lange Zeit kein verlässlicher Partner mehr sein. Vielmehr würde Russland ein Staat, mit dem ausschließlich notwendige Beziehungen gepflegt werden müssten. Außerdem habe der Krieg schon jetzt die Konsequenz, "dass die Nato zusammensteht, die EU zusammensteht, dass die Abschreckung an der Ostgrenze der Nato intensiviert wird, dass wir in Zukunft viel vorsichtiger mit Russland umgehen". Auch die Abkehr von russischen Energielieferungen nennt Jäger als Konsequenz des Krieges, die bereits gilt.
Aufgrund von allem, was sich in der Ukraine ereignet hat, glaubt auch die Russlandexpertin Hanna Notte, dass Europa mit einem durch Wladimir Putin geführten Russland zum "Status quo ante" nicht zurückkehren könne und "dass die westlichen Sanktionen auf lange Sicht bestehen bleiben werden".
Im Video erfahren Sie, warum die Experten welchen Ausgang des Krieges für am wahrscheinlichsten einschätzen und welche Strategie sie dahinter vermuten. Diskutieren Sie gerne in den Kommentaren mit.
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