23.02.2023, Russland, Moskau: Dieses von der staatlichen russischen Nachrichtenagentur Sputnik via AP zur Verfügung gestellte Foto zeigt Wladimir Putin, Präsident von Russland, bei einer Kranzniederlegung am Grab des Unbekannten Soldaten während der nationalen Feierlichkeiten zum «Tag des Verteidigers des Vaterlandes».
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Ukraine:"ImperialeVergangenheit ist für Russland ein Problem"

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Ukraine: "Imperiale Vergangenheit ist für Russland ein Problem"

Frieden im Ukraine-Krieg sei nur möglich, wenn Russland seine imperialen Denkmuster ändert. Das sagt der Historiker Martin Schulze Wessel. Ein Interview über Parallelen zum Ersten Weltkrieg, russische Kriegsmythen und ukrainische Kampfmoral.

Über dieses Thema berichtet: Possoch klärt am .

Der Ukraine-Krieg scheint festgefahren zu sein. Um Bachmut im Osten tobt ein zäher Stellungskrieg mit vielen Verlusten. Erinnerungen an den Ersten Weltkrieg werden wach – und die Fragen stehen im Raum: Welchen Ausweg gibt es? Unter welchen Bedingungen ist Frieden möglich? Im neuen "Possoch klärt"-Video haben wir sie Martin Schulze Wessel gestellt, Professor für Geschichte Ost- und Südosteuropas an der LMU München.

BR24: Kann man die aktuellen Kampfhandlungen im Ukraine-Krieg mit dem damaligen Stellungskrieg des Ersten Weltkriegs vergleichen?

Martin Schulze Wessel: Wir beobachten heute auf dem Schlachtfeld einen Kampf, etwa in Bachmut, tatsächlich um Quadratmeter. Man kann das aber nicht mit dem Ersten Weltkrieg vergleichen, weil die Kontexte so verschieden sind. Unser Bild vom Ersten Weltkrieg ist ja von der Westfront geprägt, mit Deutschland gegen Frankreich und dann auch noch England und den Amerikanern. Da ging es um Sieg oder Niederlage. Es hat sicherlich auch Kriegsverbrechen gegeben. Es ging um die Hegemonie, die Vormachtstellung in Europa, aber es ging nicht um die Vernichtung einer Nation. Und das ist das erklärte Ziel des russischen Krieges gegen die Ukraine, nämlich dass die Ukrainer als eigenständige, unabhängige Nation mit ihrer Kultur nicht weiter existieren sollen.

Im Video: Ist der Ukraine-Krieg so sinnlos wie der Erste Weltkrieg?

BR24: Also eine andere Kriegs-Strategie?

Schulze Wessel: Es geht auf russischer Seite um einen systematischen Angriff auf die Zivilbevölkerung. Das haben wir von Anfang des Krieges gesehen. Es wurden Kindergärten und Krankenhäuser angegriffen. Und die Botschaft war: Nirgendwo in der Ukraine soll man sich sicher fühlen. Und seit einiger Zeit kommen eben auch Angriffe auf die Infrastruktur hinzu, mit der Botschaft, dass man die Ressourcen in der Ukraine vernichten möchte, dass man die Ukraine zu einem unwirtlichen Land machen möchte, dass man die Moral der Zivilbevölkerung brechen will.

Ukrainische Soldaten mit "wirklicher Kriegsmoral"

BR24: Gelingt es Russland, die Moral der Ukrainer zu brechen?

Schulze Wessel: Die Ukraine hat einen ganz großen Vorteil in diesem Krieg, nämlich dass ihre Soldaten überzeugt sind von dem, wofür sie kämpfen. Sie haben eine wirkliche Kriegsmoral, während die russischen Soldaten entweder mit materiellen Verheißungen in den Krieg gelockt oder dann mit Gewaltdrohungen in den Kampf geschickt werden. Das macht zwischen den beiden Kriegsparteien einen großen Unterschied aus und es macht auch einen riesigen Unterschied zum Kampfgeschehen aus, was wir im Ersten Weltkrieg an der Westfront hatten.

BR24: Dennoch bleibt das Bild der Grausamkeit und auch das einer gewissen Sinnlosigkeit, wenn bei Grabenkämpfen wie zu Zeiten des Ersten Weltkriegs junge Menschen sterben müssen.

Schulze Wessel: Also unser Bild vom Ersten Weltkrieg an der Westfront ist ja ganz wesentlich geprägt durch den Roman von Erich Maria Remarques "Im Westen nichts Neues". Und da wird diese Sinnlosigkeit des Krieges sehr eindrücklich erzählt.

In dem Krieg zwischen Russland und der Ukraine haben wir es auf der ukrainischen Seite mit Soldaten zu tun, die sicherlich auch die ganz furchtbare Grausamkeit des Krieges erleben, die aber auch wissen, dass wenn Sie Ihr Land nicht verteidigen, dann wird es von russischen Soldaten furchtbar unterdrückt. Dann werden die Frauen der Ukraine vergewaltigt. Das sind ja alles keine Gräuel-Märchen, die erzählt werden, sondern das sind Erfahrungen, die eben in den ersten Monaten des Krieges, etwa in Butscha, aber auch in vielen anderen Orten gemacht worden sind. Der Krieg wird von russischer Seite als Vernichtungskrieg gegen die Zivilbevölkerung geführt und das hat natürlich Einfluss auf die ukrainische Kampfmoral.

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Prof. Dr. Martin Schulze Wessel

Russische Propaganda auf Dauer "schwer zu vermitteln"

BR24: Das scheinen inzwischen immer mehr Menschen zu merken. Wie kann sich Russland noch rechtfertigen?

Schulze Wessel: Es gibt eine gewisse Analogie zu dem Krieg, den wir heute erleben, darin, dass der erste Weltkrieg für die russische Bevölkerung eigentlich schwer zu erklären war. Also heute wird der Krieg mit großen Propagandaeinsatz gegenüber der russischen Bevölkerung erklärt. Aber mit ideologischen Formeln, dass in Kiew tatsächlich Faschisten an der Macht sind, ist für eine längere Zeit schwer zu behaupten. Und dass die Ukrainer jetzt ein anderes Ziel als die Verteidigung ihres Landes verfolgen, ist auch auf die Dauer schwer zu vermitteln.

Ukraine kann sich auf russischen Kriegsmythos berufen

BR24: Putin stützt sich also auf Mythen?

Schulze Wessel: In Russland gibt es einen Kriegsmythos, der auf den Zweiten Weltkrieg und auf die Napoleonischen Kriege zurückgeht. Und zwar den Mythos des Volkskrieges. Also die Vorstellung, dass ein Krieg nicht nur von der Armee geführt wird, sondern von der Bevölkerung, die beispielsweise als Partisanen Widerstand gegen die feindliche Armee leisten. Dies passiert aber ja in dem heutigen Krieg auf russischer Seite gerade nicht. Also Russland ist der Angreifer. Russland ist nicht das Land, das seine eigene Heimat verteidigt. Also die Rollen sind umgekehrt. Die Ukraine führt einen Volkskrieg, in dem die Bevölkerung die Soldaten unterstützt. Und das führt zu der bemerkenswerten Situation, dass Russland gegen ein Land kämpft, das sich auf den eigenen russischen Mythos berufen kann.

Imperiale Vergangenheit ist für Russland selbst ein Problem

BR24: Kann man die Ursachen dieser Mythen ermitteln?

Schulze Wessel: Der Vernichtungskrieg, den Russland gegen die Ukraine führt, hat sicherlich Ursachen, die tief in der Geschichte zurückliegen, ohne dass der Krieg jetzt geschichtlich determiniert wäre. Aber Russland hat eine imperiale Vergangenheit, die für Russland selbst zum Problem geworden ist. Also es gibt die feste Vorstellung davon, dass Russland nur als Imperium bestehen kann oder gar nicht, dass es andere Völker beherrschen muss und sonst in seiner eigenen Existenz bedroht ist.

BR24: Das hört sich an, als wäre ein Frieden mit Russland nur schwer möglich?

Schulze Wessel: Frieden kann nur erreicht werden, wenn Russland diese Denkmuster überwindet. Und die kann man nur in der Beschäftigung mit Geschichte überwinden, indem man sich klarmacht: Wie sind eigentlich diese Denkmuster entstanden? Und dann versucht, eine eigene nationale, aber eben nicht imperiale Tradition dagegen zu setzen. Das ist eine Aufgabe, die nicht in einem Jahr, nicht in zwei Jahren zu erledigen ist, sondern für die ein langer Atem von Jahrzehnten notwendig ist.

BR24: Danke für das Gespräch.

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