Wladimir Putin, Präsident von Russland
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„Putin will die Bevölkerung gegen die Bundesregierung aufhetzen“

    "Putin will die Bevölkerung gegen die Bundesregierung aufhetzen"

    Die Ukraine geht im Krieg gegen die russischen Besatzungstruppen in die Offensive. Warum Deutschland die Ukraine auch im Winter weiter unterstützen sollte, erklärt Sicherheitspolitik-Experte Nico Lange im BR24-Interview.

    Nachdem die ukrainischen Truppen viele Gebiete im Nordosten des eigenen Landes zurückerobern konnten, wird in Deutschland nun über die Lieferung weiterer schwerer Waffen an die Ukraine diskutiert.

    Nico Lange, Experte für Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik und ehemaliger Leiter des Leitungsstabes im Bundesministerium der Verteidigung, erklärt im Interview mit BR24, weshalb seiner Meinung nach weitere Waffenlieferungen an die Ukraine für den Krieg im Winter sinnvoll sind. Putins Strategie sei es, die Deutschen gegen die Bundesregierung aufzuhetzen.

    Dominic Possoch: Wie wird der Krieg in der Ukraine im Winter werden?

    Nico Lange: Das ist eine wichtige Frage, weil die Ukraine ein sehr großes Land mit sehr wenig natürlichen Grenzen ist. Daher stellen sich die Fragen: Wie kann man sich da fortbewegen? Gibt es Schlamm? Gibt es viel Wasser? Ist der Boden gefroren oder nicht? Das alles macht sehr viel Unterschied für die militärische Vorgehensweise. Wir haben auch im Winter gesehen, dass die russischen Streitkräfte sich auf den Straßen nur zu bestimmten Zeitpunkten fortbewegen konnten. Insofern wird sich der Krieg im Winter verändern. Die entscheidende Frage ist aber auch: Wo stehen wir eigentlich in diesem Krieg im Winter? Und hier geschieht in den letzten Tagen sehr viel, sodass alles, was wir jetzt analysieren, einen gewissen Charakter der Vorläufigkeit hat.

    "Ukraine will Verhandlungsposition verbessern"

    Possoch: Welchen Einfluss hat der Winter auf die militärische Strategie der Ukraine?

    Lange: Ich bin mir sicher, dass der ukrainische Generalstab sehr genau weiß, wie sich die Landschaft verändern wird. Zum Beispiel am südwestlichen Ufer des Dnipro. Das ist ein Gelände, das zum großen Teil sogar unter dem Meeresspiegel liegt, wo das Grundwasser sehr dicht ist, wo es viel Schlamm geben könnte und wo man sich vielleicht ab einem gewissen Zeitpunkt fast gar nicht mehr fortbewegen kann. Genauso weiter im Nordosten, wo es zu sehr starken Frösten kommen kann und auch zu sehr viel Schneefall. Deshalb ist die Strategie, jetzt noch die Verhandlungsposition zu verbessern und Fortschritte zu erreichen, solange die Wettergegebenheiten das ermöglichen, durchaus plausibel.

    "Russland kann nur noch reagieren"

    Possoch: Welche Strategie könnten dagegen nun die russischen Streitkräfte verfolgen?

    Lange: Die entscheidende Entwicklung der letzten Wochen in diesem Krieg ist doch die, dass die Initiative immer mehr zu den Ukrainern übergegangen ist. Wir wissen jetzt noch nicht, wohin das führt. Aber was wir auf jeden Fall sehen, ist, dass Russland immer mehr dazu gezwungen ist, auf Aktivitäten der Ukrainer wie zum Beispiel auf diesen Gegenstoß der letzten Tage zu reagieren. Russland kommt gar nicht mehr dazu, die eigenen Pläne und die eigene Strategie zu entfalten.

    Und es war vor einigen Wochen erkennbar, dass Russland dachte, mit dieser Feuerwalze aus massivem Artilleriebeschuss und dann dem Nachrücken von Bodentruppen hätte man ein Rezept gefunden, um voranzukommen. Und zwischen April und August hat man ja auch auf russischer Seite etwa 60 Kilometer Geländegewinn gemacht. Jetzt hat man aber diese unter großen Verlusten errungenen Geländegewinne ganz schnell wieder verloren, weil man vom Angriff der Ukrainer überrascht worden ist.

    "Putin führt Krieg gegen ukrainische Zivilbevölkerung"

    Possoch: Russland hat auf die ukrainische Gegenoffensive direkt mit Angriffen auf kritische Infrastruktur reagiert. Gehört das auch zur Strategie für den Winter?

    Lange: Man muss es kritisch sehen, dass Putin auch einen Krieg gegen die Zivilbevölkerung in der Ukraine führt. Da werden Heizkraftwerke gezielt zerstört. Das Kernkraftwerk in Saporischschja muss abgeschaltet werden. Da werden Elektroleitungen zerstört, Wasserleitungen, Infrastrukturen. Und natürlich, wenn in der Ukraine der Winter hart wird, dann gibt es Millionen Menschen in der Zivilbevölkerung, die sowieso schon sehr viel gelitten haben, die dann ganz gezielt von Russland auf diese Weise unter Druck gesetzt werden. Also da haben wir das Thema: Wie machen wir eigentlich die Ukraine winterfest, damit diese Strategie von Putin nicht funktionieren kann?

    "Asymmetrische Kriegsführung" gegen Deutschland

    Possoch: Gleichzeitig verhindert der russische Präsident Wladimir Putin weiterhin Gaslieferungen nach Deutschland und lässt die Sorgen vor einem kalten Winter bei uns wachsen. Verfolgt Putin damit die gleiche Strategie wie in der Ukraine?

    Lange: Die Strategie von Putin ist es, möglichst die Bevölkerung in Deutschland gegen die Regierung aufzuhetzen. Und zwar mit einer Mischung aus dem Anheizen von sozialen Spannungen, dem Betonen von bestimmten Problemen und natürlich auch mit Desinformationen, also mit asymmetrischer Kriegsführung. Die Erfolgswahrscheinlichkeit halte ich persönlich hier aber für relativ niedrig.

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    Nico Lange

    Possoch: Die Sorgen vor einem kalten Winter in Deutschland existieren aber dennoch?

    Lange: Ich weiß nicht, ob wir unseren Mitbürgerinnen und Mitbürgern da nicht auch ein bisschen unrecht tun. Es wird immer so getan, als sei das eine ganz logische Entwicklung, dass, sobald Kosten da sind oder bestimmte Risiken bestehen, dass die Deutschen dann sagen: Oh, wir wollen der Ukraine nicht mehr helfen. Ich muss ganz ehrlich sagen: Ich mache diese Erfahrung nicht. Ich kenne sehr viele, und die Umfragen zeigen das im Übrigen auch, die sagen: Ja, wir wissen, dass das Kosten hat. Aber wenn wir in die Ukraine jetzt nicht unterstützen, dann brauchen wir über europäische Werte überhaupt gar nicht mehr zu reden.

    "Viele Hypothesen waren falsch"

    Possoch: Sollte Deutschland die Ukraine also mit allem unterstützen, was sie braucht, um die Russen auch tatsächlich final zurückzuschlagen?

    Lange: Man muss zunächst mal anerkennen, dass viele Hypothesen falsch waren. Also Russland ist nicht hoffnungslos überlegen. Die Ukraine kann sehr wohl Widerstand leisten. Die Ukrainer können sehr wohl und sehr effizient mit modernen westlichen Waffensystemen umgehen, übrigens mit sehr vielen unterschiedlichen. Die Ukrainer sind sehr gut darin, ganz unterschiedliche westliche Hilfen in ihre Logistik einzubinden. Und das sind ja alles Dinge, von denen vorher viele gesagt haben, das ginge nicht. Und dann muss man jetzt, glaube ich, einfach so ehrlich zu sich selbst sein und diese Einschätzungen korrigieren.

    Waffenlieferungen: "Bester Weg, den Krieg zu beenden"

    Possoch: Das heißt, Deutschland sollte mehr schwere Waffen an die Ukraine liefern?

    Lange: In den letzten Tagen ist in Russland das erste Mal wieder von Verhandlungen gesprochen worden. Im russischen Fernsehen gibt es schon nach kurzer Zeit nach diesem Angriff der Ukraine offene Diskussionen darüber, ob das eigentlich sinnvoll ist, was Russland da tut. Das ist eine bemerkenswerte Entwicklung. Und man kann eigentlich nur den Schluss daraus ziehen: Wenn wir die Ukraine so stark machen, dass sie jetzt weiter vorankommen kann, dann ist das der beste Weg, um den Krieg zu beenden.

    Im Übrigen ist es auch das, was die G7, auch Olaf Scholz in Elmau beschlossen haben, nämlich die Ukraine so auszustatten und so auszurüsten, dass sie in die Lage kommt, diesen Krieg beenden zu können. Ich glaube, da sind wir jetzt ein Stück näher dran. Wir dürfen aber nicht nur zugucken, sondern wir müssen immer überlegen: Was können wir jetzt tun, um die Ukraine dabei zu unterstützen, diesen Krieg erfolgreich zu führen?

    "Weitere Eskalation Russlands ist ein Mythos"

    Possoch: Dennoch gibt es die Befürchtung, dass Putin aufgrund weiterer Waffenlieferungen Richtung Deutschland noch weiter eskalieren könnte?

    Lange: Putin stellt die Frage an den Westen, ob er stärker ist oder ob wir stärker sind.

    Der beste Ratschlag, den man uns selbst geben kann, ist: Wir müssen zeigen, dass wir stärker sind. Im Übrigen halte ich den Mythos, dass Putin immer weiter eskalieren kann, wirklich für einen Mythos. Also es wird keine zusätzliche zweite russische Geisterarmee plötzlich auftauchen, die andere Länder angreift. Die russische Armee hat ja schon Probleme mit diesem Angriff in der Ukraine. Das ist doch ganz offensichtlich erkennbar. Und mir ist persönlich überhaupt nicht klar, über welche Form der Eskalation wir hier reden. Das Gas ist bereits abgestellt, die russischen Streitkräfte haben große Probleme.

    "Sieg Russlands bedeutet noch höhere Kosten"

    Possoch: Das heißt, Deutschland sollte die weitere Unterstützung der Ukraine nicht von der eigenen Energiekrise abhängig machen?

    Lange: Wenn wir die Ukraine nicht unterstützen und als Deutschland nicht das tun, was nötig ist, rettet das uns aus der Krise erst recht nicht. Die Kosten für uns alle werden viel höher sein, wenn Putin sich die Ukraine einverleiben kann und dann versucht, den europäischen Kontinent zu dominieren. Darum geht es ihm doch. Das muss man doch ernst nehmen. Und es ist doch so, dass andere Staaten genau die gleichen Probleme zu lösen haben. In Großbritannien geht es um die Frage, wie im Winter die Energie-Fragen zu lösen sind. In den mittelosteuropäischen Staaten ist das auch so. Und ich glaube, dass Deutschland nicht alleine, sondern zusammen mit den europäischen Partnern Lösungen für diese Fragen finden und gleichzeitig die Ukraine unterstützen kann. Das ist jetzt unsere Aufgabe.

    Possoch: Vielen Dank für das Gespräch.

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