Russland blockiert den Export von ukrainischem Getreide und scheint zu versuchen, weitere Ernten zu vernichten. Das Büro des ukrainischen Präsidenen Selenskyj nennt das "Lebensmittelterrorismus", der renommierte US-Historiker Timothy Snyder spricht vom großen "Hungerplan". Putin, der den Krieg gewinnen will, indem er globalen Druck aufbaut und einen Großteil der Entwicklungsländer aushungert.
Gewinnt Putin den Krieg mit Hunger? Dieser Frage geht das neue "Possoch klärt" (Video unten) nach. Die Dimensionen des Hungerproblems macht gleich zu Beginn Martin Frick, Leiter des Berliner Büros des Welternährungsprogramms der Vereinten Nationen, klar:
"Wir gehen von fast einer Drittelmilliarde Menschen aus, die akut von Hunger betroffen sind." Martin Frick, Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen
Ist es Putins Masterplan, mit dem Angriff auf die Ukraine, der Kornkammer Europas, die Welt ins Hungerchaos zu stürzen?
Hunger als Waffe: Hat Putin einen "Hungerplan"?
Der Ukraine-Krieg verschärft die weltweite Hunger-Krise. Außenministerin Baerbock (Grüne) sieht in Russland den Hauptschuldigen. Auch der renommierte US-Historiker Timothy Snyder von der Yale University hat jüngst in einem viral gegangenen Tweet dargelegt: Putin hat einen "Hungerplan".
Wladimir Putin bereite sich darauf vor, als nächste Stufe seines Krieges in Europa einen Großteil der Entwicklungsländer auszuhungern. Wenn die russische Blockade anhielte, würden Millionen Tonnen Lebensmittel in Silos verrotten und Millionen Menschen in Afrika und Asien verhungern.
Snyder glaubt, dass Putin mit den Seeblockaden versucht, den ukrainischen Staat zu zerstören, durch die Nahrungsmittelkrise sollen Flüchtlingsströme aus Nordafrika und dem Nahen Osten nach Europa geschaffen werden, die die Europäische Union destabilisieren sollen, wodurch der Westen in hohem Maße erpressbar gemacht werden kann.
Im Video: Setzt Putin Hunger als Waffe ein, um den Ukraine-Krieg zu gewinnen? Possoch klärt!
Historikerin: "Hungerplan ist steile These"
Im Interview mit BR24 für das neue "Possoch klärt" macht Susanne Schattenberg, Professorin für Geschichte und Kultur Osteuropas an der Universität Bremen, klar: Der "Hungerplan" ist "eine steile These, der ich so nicht ganz folgen kann, aber sie rüttelt natürlich auf". Es sei nicht das erklärte Ziel Putins, die Bevölkerung im globalen Süden auszuhungern, aber "schlimm genug, es ist Mittel zum Zweck, um den Westen zu erpressen", so Schattenberg weiter.
"Putin ist Zyniker und Stratege genug, er hält den Westen für erpressbar und wahrscheinlich freut er sich diebisch, dass er den Westen in so einer Zwangslage bringt: Entweder verhungert die Bevölkerung Afrikas und Asiens oder die Ukraine verliert die Hälfte ihres Territoriums." Susanne Schattenberg, Professorin für Geschichte und Kultur Osteuropas
Tatsächlich aber scheint diese "Hunger-Waffe" hauptsächlich ein Bluff zu sein.
Militärökonom: "Nicht auf die Erzählung Putins reinfallen"
Wie der Militärökonom Marcus Keupp von der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich anhand von Zahlen verdeutlicht: "Es gibt genügend Nahrungsmittel in der Welt und niemand ist gezwungen, sich Putin auszuliefern." Es sei einfach nur ein bequemer Weg für manche Staaten, aber keinesfalls erzwungen.
Als Beispiel führt Keupp die Seychellen an. Diese importieren etwa 52 Prozent ihres Weizens aus Russland und der Ukraine. Weizenimporte, die seit Kriegsbeginn fehlen. Allerdings: In absoluten Mengen betrachtet, betragen diese Importe lediglich neun Tonnen. "In anderen Worten: So gut wie nichts." Sagt Keupp. Der gesamte Weizenkonsum auf den Seychellen betrage insgesamt 18 Tonnen pro Jahr, wovon eben ansonsten neun Tonnen aus Russland und der Ukraine stamme. Mit dieser "Brille" müsse man durch die Problematik in den verschiedenen afrikanischen Ländern schauen, um festzustellen, dass die "Hunger-Waffe" eine Geschichte ist, die Putin versucht, aufzubauen, aber auf die man eben nicht hereinfallen dürfe.
Nahrungsmittelkrise nicht von Putin kontrolliert
Martin Frick, der Direktor des WFP-Büros für Deutschland, Österreich und Liechtenstein, stellt ebenfalls fest, dass die Hungerproblematik nicht von Putin verursacht wurde: "Wir hatten bereits zu Beginn dieses Jahres eine alarmierende Situation und hatten als WFP den Alarm ausgelöst, da war in der Ukraine noch kein Schuss gefallen." Die Nahrungsmittelkrise sei eine "Verteilungs- und Preiskrise", die mit "Geld und gutem Willen lösbar" sei.
Ebenfalls widerspricht Frick dem Narrativ Putins, Russland könnte das Hunger-Problem lösen, wenn nur der Westen seine Sanktionen aufheben würde. Dass Putin diesen Zusammenhang zwischen den Weizen-Exporten Russlands und den Sanktionen des Westens herstelle, sei "perfide" und habe nichts mit der Wirklichkeit zu tun.
Holodomor: Damals Stalin, heute Putin?
Ein weiterer Vorwurf, der im Zusammenhang mit der "Hunger-Waffe" kommt: Die Russen beabsichtigten, den Holodomor zu wiederholen. US-Historiker Snyder etwa stellt diesen Zusammenhang in seinen Tweets her. Übersetzt heißt Holodomor "Tötung durch Hunger" und gemeint ist damit eine verheerende Hungersnot in der Ukraine in den Jahren 1932 und 1933. Stalin, der sowjetische Diktator, hatte sie ausgelöst. In der Ukrainischen Sowjetrepublik starben bis zu fünf Millionen Menschen deswegen. 2006 wurde der Holodomor in der Ukraine offiziell als Genozid bezeichnet.
Osteuropahistorikerin Schattenberg hält diesen Vergleich für wenig angebracht. Stalins Ziel war es damals die Bauern als Klasse zu vernichten, ebenso waren es ganz andere Opferzahlen als jetzt in der Ukraine. "Dass Putin bisher in der Ukraine selbst den Hunger als Waffe eingesetzt hat, das haben wir noch nicht gesehen, jedenfalls nicht massenweise," sagt Schattenberg. "Das heißt, er will sie eigentlich nicht vernichten, also auf jeden Fall nicht physisch vernichten, sondern er will sie in Russland wieder eingemeinden, ja also sie zwangsweise integrieren."
Will Putin Flüchtlingsbewegungen erzeugen, um die EU zu destabilisieren?
Der andere Teil von Putins angeblichem "Hungerplan" ist es, Flüchtlingsbewegungen aus Afrika und dem Nahen Osten zu schaffen, um so die Europäische Union zu destabilisieren. Militärökonom Keupp widerspricht diesem "beliebten, rechtskonservativen Narrativ nach dem Motto: Afrika sitzt auf gepackten Koffern".
Keupp führt aus, dass ein Großteil der Bevölkerung es sich gar nicht leisten könne, Schlepper oder Schleuser zu bezahlen. Zudem handle es sich bei der Migration in Afrika vor allem um Binnenmigration, von einem afrikanischen Land in ein anderes afrikanisches Land. Dass Putin riesige Flüchtlingswellen schaffen würde, hält Keupp für "völlig unrealistisch".
Im Video oben erfahren Sie alles, was Sie über den angeblichen "Hungerplan" Putins wissen sollten. Diskutieren Sie gerne in den Kommentaren mit.
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