Die aktuellen Wartungsarbeiten an der Gaspipeline Nordstream 1 setzen Deutschland unter Druck. Die Gaslieferungen sind stark zurückgefahren, die Gasspeicher können derzeit nicht weiter so aufgefüllt werden, wie erhofft. Die Bundesregierung muss mit immer höher steigenden Gaspreisen umgehen und das Szenario eines möglichen Gasnotstands im kommenden Winter mit einkalkulieren. Das neue "Possoch klärt" (Video unten) beschäftigt sich mit der Frage, ob wir ohne russisches Gas durch den Winter kommen können.
Claudia Kemfert, Wirtschaftswissenschaftlerin und Leiterin der Abteilung Energie, Verkehr und Umwelt am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung, hat für das Video mit Moderator Dominic Possoch gesprochen.
Dominic Possoch: Es wird diskutiert, ob ein vollständiger Gas-Import-Stopp aus Russland droht. Sind wir in Deutschland ohne das russische Gas im Winter aufgeschmissen?
Claudia Kemfert: Man muss schon noch auf die Fakten gucken. Wir werden auch im Winter über 60 Prozent unseres Gases bekommen. Es ist sehr unwahrscheinlich, dass jetzt alle Gaslieferanten ausfallen. Das heißt, wir werden auch die Speicher gut gefüllt haben. Vielleicht werden wir zum Ende des Winters, wenn der Winter sehr kalt ist, überhaupt erst in der Diskussion sein, ob wir tatsächlich eine Gas-Triage bzw. eine Gasmangellage bekommen sollten.
Gasnotstand: "Einige Aufgaben zu bewerkstelligen"
Possoch: Wie können wir verhindern, dass es am Ende zu einem Gasnotstand kommt?
Claudia Kemfert: Wir haben einige Aufgaben zu bewerkstelligen. Ich bezeichne das immer als ASSA-Formel: Das erste ist das Ausweichen. Man muss aus anderen Ländern Gas beziehen. Das tun wir auch schon aktuell. Wir bekommen mehr Gas aus Norwegen, aus den Niederlanden, aber auch andere Länder können mehr liefern. Das ist dann auch Flüssiggas über die Terminals in Belgien oder Holland oder Frankreich. Das zweite ist das Speichern. Die Speicher müssen befüllt werden, und zwar möglichst voll bis zum Winter. Das dritte ist das Sparen. Da müssen wir sehr viel tun. Die Industrie hat Optionen, bewirbt sich auch im Moment und bekommt Entschädigungen. Die Haushalte müssen ebenfalls sparen. Und das vierte ist Ausweiten. Das heißt, die erneuerbaren Energien müssen deutlich schneller ausgebaut werden.
Im Video: #Gasnotstand: Kommen wir ohne Putins Gas durch den Winter?
Kemfert: Marktwirtschaft hilft beim Gas-Sparen
Possoch: Wie kann das Gas-Sparen in der Industrie genau funktionieren?
Kemfert: Es ist sinnvoll, das zu machen, was man jetzt auch endlich beginnt, nämlich dass man einen Wettbewerb für die Industrie startet, wer am meisten Energie sparen kann. Also, dass man sich darauf bewirbt und dafür auch Entschädigungen bekommt. Da ist wahnsinnig viel Musik drin. Die reduzieren jetzt schon ihren Gasverbrauch um über zehn Prozent, das geht in Richtung 20 Prozent. Das ist möglich. Wir dürfen nicht vergessen, dass die Gaspreise derzeit explodieren. Wir sind in einer Marktwirtschaft. Das heißt, die Gas-Nachfrage wird deutlich zurückgehen.
Possoch: Können private Haushalte auch beim Sparen helfen?
Kemfert: Bei den Haushalten wird es schwieriger. Da kann man mit einfachen Maßnahmen auch sparen, sei es über die Thermostat-Einstellung oder auch einfache Sparprogramme. Oder wenn es eben noch geht, dass man versucht, wegzukommen von einer Gasheizung oder zumindest Alternativen anschiebt. Das scheint mir sehr sinnvoll zu sein. Da kann man bis zum Winter schon noch ein bisschen was schaffen, auch wenn das nicht in der Breite möglich ist.
Kemfert: "Wir brauchen Brücken ins erneuerbare Energie-Zeitalter"
Possoch: Das alles sind Maßnahmen für die nahe Zukunft. Wie sieht es mit langfristigen Strategien aus?
Kemfert: Das Hauptproblem ist, dass wir da nur rauskommen können, wenn wir uns wirklich ernsthaft von den fossilen Energien insgesamt verabschieden, vor allen Dingen vom Gas und nicht mehr diesen falschen Narrativ hinterherlaufen: Gas als Brückentechnologie. Das stimmte vielleicht mal vor über 15 Jahren. Aber jetzt sind 15 Jahre vergangen und das macht keinen Sinn mehr. Wir brauchen jetzt Brücken ins erneuerbare Energien-Zeitalter und müssen die fossilen Brücken endlich beenden.
Possoch: Wie schnell könnte der Schritt ins erneuerbare Energien-Zeitalter Ihrer Meinung nach vollzogen werden?
Kemfert: Beim Ausbau der erneuerbaren Energien können wir noch sehr viel schneller werden. Wir können ja auch Flüssiggasterminals innerhalb von vier Monaten genehmigen. Vorher hat man dafür 40 Jahre gebraucht. Also kann man auch deutlich schneller werden, was den Ausbau der Erneuerbaren Energien angeht.
Kemfert: "Man hat sich von vermeintlich billigem Gas locken lassen"
Possoch: All das wird allerdings auch seinen Preis haben?
Kemfert: Es ist so, dass wir tatsächlich jetzt den Preis der verschleppten Energiewende bezahlen. Wir sind zum einen zu abhängig von Gas, das ist richtig, aber zum anderen sind wir vor allen Dingen vom russischen Gas zu abhängig. Denn wir haben ja international keine Gasknappheit. Es gibt ja Gas auf den internationalen Märkten zu kaufen. Man hat sich hier locken lassen von vermeintlich billigen Gaslieferungen, die aber nicht eingepreist haben, dass wir geopolitische Risiken haben, auch klimapolitische Risiken, die eben jetzt uns zu diesen hohen Preisen führen. Wir bezahlen jetzt einen extrem hohen Preis für diese Ignorierung der Risiken.
Claudia Kemfert
Zielgerichtete Hilfen für einkommensschwache Haushalte
Possoch: Die hohen Preise könnten besonders für einkommensschwache Haushalte problematisch werden. Wie sollte die Bundesregierung bei den Preissteigerungen verfahren?
Kemfert: Besonders Niedrigeinkommensbezieher sollte man wirklich zielgerichtet helfen. Gerade wenn es darum geht, die Heizkosten überhaupt noch bezahlen zu können. Denn viele können 2.000 Euro eben nicht zusätzlich bezahlen. Das ist das eine. Den anderen, die sich die Preissteigerungen leisten können, sollte man nach Möglichkeit Prämien oder Anreize geben, damit sie entsprechend eine Gas-Verschwendung vermeiden, damit auch am Ende genug für alle da ist. Und ganz wichtig ist es, dass man auch hilft, auf Alternativen umzustellen. Denn die Gaspreise werden jetzt erstmal perspektivisch hoch bleiben. Das heißt, wir müssen wegkommen vom fossilen Erdgas. Und hier sollte man in der Tat einen Schwerpunkt setzen, und zwar für alle Haushalte, dass man da Abhilfe schafft.
Ende von Nord Stream 2 schuld an Gas-Krise?
Possoch: Auf Social Media wird nun auch die Meinung laut, dass die aktuelle Gas-Problematik Deutschlands selbstverschuldet sei, und zwar durch den Abbruch des russisch-deutschen Gaspipeline-Projekts Nord Stream 2. Eine Gaspipeline, die nicht durch ukrainisches Gebiet, sondern direkt durch die Ostsee verlaufen wäre. Was halten Sie von dieser Argumentation?
Kemfert: Diese Argumentation halte ich für absurd, weil Russland uns den Gashahn abdreht. Das tut Russland im Übrigen über alle Pipelines über Polen, über die Ukraine und jetzt auch über die Ostsee-Pipeline. Da zu argumentieren: Aber hätten wir irgendwie eine andere Gaspipeline, dann würde Russland darüber Gas liefern. Das ist absurd und klingt eher nach russischer Argumentation als nach einer ernstgemeinten Alternative.
Kemfert: Gemeinsames und solidarisches Handeln entscheidend
Possoch: Robert Habeck hat die aktuelle Situation als eine Zerreißprobe dargestellt, die wir in Deutschland lange so nicht hatten. Dafür hat er ein bisschen Kritik bekommen, vor allem natürlich aus den Reihen der Opposition, die gesagt haben, das sei Panikmache. Ist die Kritik angebracht?
Kemfert: Man muss schon auch ehrlich mit den Menschen kommunizieren. Ich sehe das schon als notwendig an, dass man offen, ehrlich und klar informiert, was Sache ist. Oder, um Robert Habeck zu zitieren: Was Phase ist. Das ist schon richtig. Allerdings darf man das nicht in Angst und Schrecken ummünzen lassen, sondern gleichzeitig deutlich machen: Wir kümmern uns. Grundsätzlich muss man Menschen in diesen Zeiten aufklären, damit wir auch die Sparpotenziale heben können.
Possoch: Ihre Botschaft ist also auch, dass Angst und Panik nicht angebracht sind?
Kemfert: Angst und Panik ist nie eine gute Stimmung, in die man verfallen sollte. Sondern man sollte Sorge haben, wach sein, Informationen aufnehmen und dann handeln. Das ist das Allerwichtigste, dass man versteht, die Gaspreise steigen, wenn man mit Gas heizt. Dass man Vorsorge trifft, zu sparen oder umzustellen, und das auch perspektivisch anschiebt. Das fände ich eine gute Reaktion. Aber es geht hier darum, Informationen zu geben und nicht Angst, Horror und Untergangsszenarien an die Wand zu malen. Wir leben in einem reichen Land. Wir können allen helfen, aber wir müssen uns gemeinschaftliche vorbereiten und auch die Wege gemeinschaftlich gehen. Und das solidarisch.
Possoch: Danke für das Gespräch.
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