Die Ausgangslage in Deutschland ist kompliziert: Auf der einen Seite gibt es in Europa eine akute Energiekrise und einen immer noch drohenden Gasnotstand wegen der unsicheren Gas-Lieferungen aus Russland, auf der anderen Seite plant die Bundesregierung, bei Gasknappheit Kohlekraftwerke anzuwerfen und das obwohl die Klimakrise immer mehr ihre Auswirkungen auf den Planeten zeigt – wie zum Beispiel jüngst mit der Hitzewelle in Südeuropa. Und mehr Kohleverstromung bedeutet wieder mehr Kohlendioxid, das in die Atmosphäre geht.
Andere Länder in Europa setzen in dieser Gemengelage gerade auf Atomkraft: Finnland, Großbritannien, Frankreich. Belgien verschiebt den Atomausstieg um zehn Jahre, Polen steigt gar jetzt ein. Würde auch in Deutschland ein Weiterbetrieb der drei letzten Atomkraftwerke, wie Isar 2 in Niederbayern, in dieser Situation weiterhelfen? Dieser Frage geht das aktuelle "Possoch klärt" (Video unten) nach.
Kommt der Atomausstieg zur Unzeit?
Anna Wendland war lange Gegnerin der Kernenergie. Bis sie vor Ort in Atomanlagen unter anderem im nordwestukrainischen Kernkraftwerk Riwne über Reaktorsicherheit forschte. Heute tritt sie für eine "friedliche Nutzung von Kernenergie" ein. Im BR24-Interview zeigt sie sich vor allem im Hinblick auf die eventuell drohende Energie-Situation im diesjährigen Winter besorgt.
"Es ist es eher nicht angebracht, mitten in der Energiekrise und mitten im Winter, 4.200 Megawatt Kernenergieleistung aus dem Netz zu nehmen." Anna Wendland, Atomkraft-Befürworterin
Im deutschen Strommix macht Atomstrom aktuell noch etwa sieben Prozent aus. Das klinge zwar nach nicht sonderlich viel. Aber der Anteil könne über "Sein oder Nicht-Sein des Stromnetzes entscheiden". Der Kernphysiker Professor Clemens Walther von der Universität Hannover teilt diese Einschätzung: "Wenn die Gaslieferungen aus Russland ausbleiben sollten, dann könnte die Kernkraft zum Zünglein an der Waage werden."
Im Video: Energiekrise, Klima, Gasnotstand – Rettet uns Atomkraft? Possoch klärt!
Wäre ein Weiterbetrieb der letzten Kernkraftwerke überhaupt möglich?
Ein Argument, das in der aktuellen Debatte immer wieder zu hören ist: Alle haben sich auf den Atomausstieg Ende 2022 eingestellt. Es gäbe für einen Weiterbetrieb gar nicht mehr genügend Brennelemente. "Das ist bei einem Kernkraftwerk anders als beim Auto, wo der Tank einfach irgendwann leer ist. Beim Kernkraftwerk kann im sogenannten Streckbetrieb gefahren werden und dann quetscht man die Brennelemente etwas mehr aus als man das sonst tun würde", erklärt Kernphysiker Walther.
Im BR24-Interview bestätigt Dr. Thomas Walter Tromm, Experte für nukleare Entsorgung, Sicherheit und Strahlenforschung beim Karlsruher Institut für Technologie, dieses Vorgehen: "Ganz einfach ist es sicherlich nicht, aber ein Streckbetrieb bis ins Frühjahr wäre möglich, vielleicht mit verminderter Leistung."
Kernkraftwerke mit "abgelaufenem TÜV"?
Ein anderes Argument: die Sicherheit. 2019 ist die alle zehn Jahre stattfindende periodische Sicherheitsüberprüfung nicht vorgenommen worden im Hinblick auf das nahe Betriebsende 2022. Schlagzeilen vom "abgelaufenen Atom-TÜV" waren bisweilen zu lesen gewesen. "Das ist nicht korrekt", sagt Kernphysiker Walther. Atomkraftwerke werden jährlich bei einer Revision, bei der sie auch vom Netz gehen müssen, überprüft, gewartet und gecheckt. Außerdem werden dabei Brennelemente getauscht.
"Von der Sicherheit werden wir kein größeres Risiko haben, wenn wir die Kernkraftwerke drei Monate oder ein halbes Jahr über den 31.12. hinausbetreiben." Thomas Walter Tromm, Experte für Sicherheitsforschung für Kernreaktoren am Karlsruher Institut für Technologie
Sollten die Kraftwerke über diesen Zeitraum weiterlaufen, müsste jedoch die periodische Sicherheitsüberprüfung nachgeholt werden.
Kernphysiker Professor Clemens Walther, Leiter des Instituts für Radioökologie und Strahlenschutz an der Leibniz Universität Hannover
Tschernobyl, Fukushima: Lehren aus der Katastrophe?
Wer über die Sicherheit von Atomkraftwerken nachdenkt, hat wohl unwillkürlich immer auch sofort die Schlagworte Tschernobyl und Fukushima im Kopf. Denn, wenn einmal ein Super-GAU passiert, ist das bei Kernkraftwerken häufig eine große Katastrophe. Die unter Umständen austretende Radioaktivität ist hochgefährlich.
Die Strahlung stört die Zellteilung im Körper, wichtige Enzyme werden funktionsunfähig gemacht oder ganze Zellbausteine zerstört. Aber auch das Erbgut ist für ionisierende Strahlung anfällig. Die Weltgesundheitsorganisation WHO hat 2005 zu den Folgen der Atomkatastrophe von Tschernobyl von 1986 geschätzt, dass bis zu 4.000 Menschen an den Folgen der Strahlenkrankheit starben.
Allerdings ist die Tschernobyl-Technik zum Beispiel nicht mit unserer heutigen gleichzusetzen und gerade die Katastrophe in Tschernobyl hat viele überhaupt erst erkennen lassen, was schlimmstenfalls passieren kann.
Kohlendioxid-Bilanz und Leistung von Atomenergie
Im BR24-Interview nach den Hauptgründen für die Atomkraft gefragt, führt Anna Wendland an: "Die Kernenergie ist so CO2-arm wie Windkraft und so zuverlässig wie Kohlekraft." Atomstrom liefert zuverlässig Energie, bestätigen auch die beiden Wissenschaftler Tromm und Walther. Gleichwohl macht Frankreich gerade eine andere Erfahrung. Von 56 Kernreaktoren – kein anderes EU-Land hat so viele – stehen mehr als die Hälfte still.
Die Meiler in Frankreich sind in die Jahre gekommen. Die 56 Reaktoren sind im Schnitt mehr als 35 Jahre alt, allein sieben Reaktoren sind bereits heute mehr als 40 Jahre in Betrieb. Das Alter erhöht die Störanfälligkeit. Das erfordert außerdem langwierige und kostspielige Wartungen, bei denen die Reaktoren vom Netz müssen. Hinzu kommt ein Korrosionsproblem an 12 Reaktoren jüngerer Baureihen, die nun zusätzlich abgeschaltet werden müssen. Durch den fehlenden Atomstrom aus Frankreich, sehen einige Expertinnen und Experten die Energiekrise in Europa verschlechtert, manche sprechen gar von der "Krise der Atomkraft".
Bei der CO2-Bilanz schneidet die Kernenergie in der Tat gut ab. Allerdings ist die verbreitete Behauptung, Kernenergie sei komplett CO2-neutral wohl auch nicht korrekt. Wie das WDR-Wissenschaftsformat "Quarks" berichtet, entstehen die Treibhausgase besonders vor und nach der Stromproduktion, etwa beim Uranabbau, beim Kraftwerksbau oder -rückbau bis hin zur Endlagerung. Insgesamt würden sich somit schätzungsweise 731.000 Tonnen CO2 pro Jahr ergeben. Das ist jedoch wenig im Vergleich zu den mehr als 54 Millionen Tonnen CO2 pro Jahr bei der Kohlekraft, laut "Quarks".
Thomas Walter Tromm vom Karlsruher Institut für Technologie, dort zuständig für Nukleare Entsorgung, Sicherheit und Strahlenforschung
Das Problem mit dem Atommüll
Ein weiteres wichtiges Argument gegen Atomkraft ist die Problematik mit der Endlagerung. Wer Kerne spaltet, um Energie zu gewinnen, produziert radioaktiven Müll. Das Isotop Uran-235, das hauptsächlich verwendet wird in heutigen Kernkraftwerken, hat eine Halbwertszeit von 703.800.000 Jahren.
Ein Endlager für den Atommüll gibt es in Deutschland nicht, die Standortssuche ist schwierig, denn es braucht einen Ort tief in der Erde, der eine Million Jahre lang sicher ist vor klimatischen Einflüssen, Umweltkatastrophen und menschlichen Einflüssen.
Länger Atomkraft = mehr Atommüll?
Das Problem mit dem Atommüll ist in Deutschland also längst nicht gelöst. Würde ein Weiterbetrieb der deutschen Atomkraftwerke dann dieses Problem nicht nur noch viel schlimmer machen? Professor Clemens Walther, Leiter des Instituts für Radioökologie und Strahlenschutz an der Universität Hannover, rechnet vor: "Wenn wir die drei Kernkraftwerke weiter betreiben würden und ich sag mal großzügig für 3 Jahre, dann würde sich die Menge des Atommülls im niedrigen einstelligen Prozentbereich erhöhen." Drei Prozent Atommüll mehr einzulagern, würde die Anforderungen an ein Endlager nicht beeinflussen.
Gleichwohl damit die grundsätzliche Problematik mit der Endlagerung auch nicht gelöst wird, ein Weiterbetrieb würde sie lediglich nicht allzu verschlimmern. In Deutschland bleibt Atommüll das Hauptproblem – anders in Finnland.
Finnland: Endlager, moderne Reaktoren und trotzdem grün
Die Devise in Finnland lautet: Wer gegen den Klimawandel kämpfen will, müsse auch auf die Nutzung der CO2-armen Kernenergie setzen. Ende dieses Jahres geht in Finnland ein neuer Reaktor in Betrieb, der als der modernste in Europa gilt.
Olkiluoto 3 wird von Betreibern und Herstellern als "inhärent sicher" beschrieben. Ein "core catcher" soll einem Durchbrennen des Reaktorkerns wie in Fukushima vorbeugen. Finnlands sozialdemokratische Ministerpräsidentin Sanna Marin verfolgt mit der Atompolitik drei Ziele: die Strompreise dämpfen, den Kohlendioxidausstoß senken und die Abhängigkeit von Russland verringern.
Das Atommüll-Argument zählt in Finnland wenig, denn dort gibt es das erste Endlager der Welt. Bei der Frage nach den Risiken eines Super-GAUs wie in Tschernobyl oder Fukushima müsse man eben abwägen: Der Klimawandel würde noch viel schlimmer als eine nukleare Katastrophe sein, so die Debatte in Finnland. Es ist eine andere Diskussion als in Deutschland. In Finnland ist es eben kein Problem zu sagen: Ich bin grün und ich bin für Atomkraft.
Striktes "Nein" der Bundesregierung zu Atomkraft bröckelt
In der Politik ist die Diskussion längst angekommen. Die Union hat aus der Opposition heraus kritisiert, dass die Bundesregierung lieber wieder mehr Kohle verstromen will, als die Atomkraft weiter zu nutzen. Die FDP sprach sich ohnehin für eine Technologieoffenheit ohne Scheuklappen aus und auch SPD und Grüne scheinen nochmal zu überlegen.
"Wir rechnen jetzt noch mal und entscheiden dann auf der Basis von klaren Fakten." Das hatte eine Sprecherin von Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) jüngst gesagt.
Von der Atomkraft-Gegnerin zur Atomkraft-Befürworterin: Anna Veronika Wendland
Die Frage des geringeren Übels?
Im Gespräch für das neue "Possoch klärt" von BR24 macht Kernphysiker Professor Clemens Walther deutlich, dass es immer um ein Abwägen gehe.
"Der Ausstieg aus der Kernenergie-Nutzung stellt in Deutschland, glaube ich, niemand in Frage." Clemens Walther, Kernphysiker und Radioökologe
Es ginge nur darum, ob man jetzt Reserven nutzt, die man noch hat oder ob man die Kernenergie ab 2023 erstmal eins zu eins durch Kohle ersetzen würde.
Atomkraft-Befürworterin Anna Wendland wünscht sich mehr Ehrlichkeit in dieser Diskussion. Am Ende ginge es nur mit einem komplementären Energiesystem: "Wenn wir das schaffen wollen mit unserer CO2-Neutralität spätestens im Jahr 2050, müssen wir Erneuerbare ausbauen, ganz massiv ausbauen." Die Frage ist dann eben: Was soll das Backup für Windkraft und Solarstrom sein: Kohle, Gas oder Atom?
Im Video oben erfahren Sie, was Sie zur aktuellen Diskussion um die Atomkraft in Deutschland wissen sollten. Diskutieren Sie gern in den Kommentaren mit.
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