21.07.2022, Bayern, Essenbach: Wasserdampf steigt hinter Sonnenblumen aus dem Kühltum des Atomkraftwerks (AKW) Isar 2.
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Energiekrise: Atomkraft kann “Zünglein an der Waage” sein

    Energiekrise: Atomkraft kann "Zünglein an der Waage" sein

    Im Zuge der derzeitigen Energiekrise könnten die Laufzeiten der drei deutschen Kernkraftwerke noch einmal verlängert werden. Kernphysiker Clemens Walther erklärt, inwiefern die Kernenergie in Deutschland doch noch eine begrenzte Zukunft haben kann.

    Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine hat in Deutschland und Europa eine Energiekrise verursacht. Um einen Gasnotstand im Winter zu vermeiden, wird aktuell in der Politik diskutiert, ob die Laufzeiten der letzten drei deutschen Kernkraftwerke doch nochmal verlängert werden sollen, obwohl der Ausstieg bereits 2001 vom Bundestag beschlossen und 2011 nach der Katastrophe von Fukushima noch einmal novelliert wurde. Das neue "Possoch klärt" (Video unten) beschäftigt sich mit der Frage, inwiefern die Kernenergie in Deutschland doch noch eine wichtige Rolle einnehmen könnte.

    Professor Clemens Walther, Physiker und Radiochemiker am Institut für Radioökologie und Strahlenschutz an der Leibnitz Universität Hannover, hat mit Moderator Dominic Possoch über Chancen und Risiken bei einer Verlängerung der Kernkraftwerk-Laufzeiten gesprochen.

    Dominic Possoch: Wir haben in Deutschland eine akute Energiekrise, dabei droht ein Gasnotstand: Brauchen wir nach wie vor die Kernkraft?

    Clemens Walther: Ich denke, momentan, jetzt hier im Sommer brauchen wir sie nicht. Wenn die Gaslieferungen aus Russland ausbleiben sollten, dann könnte es zum Zünglein an der Waage werden, was den Unterschied macht zwischen stabilen oder nicht stabilen Netzen.

    Possoch: Könnte ein Weiterbetrieb der drei verbliebenen deutschen Atomkraftwerke unsere Energiekrise lösen?

    Walther: Ich möchte das so beantworten: Es wurde häufig gesagt, wir haben keinen Strommangel, wir haben einen Gasmangel. Das ist vordergründig richtig. Wenn man näher hinschaut, ist beides jedoch miteinander gekoppelt. Wir betreiben momentan Gaskraftwerke, um Strom zu erzeugen, und zwar in zwei Arten: Einmal zur sogenannten Grundlastdeckung. Das heißt, da laufen die Gaskraftwerke Tag und Nacht. Und dann auch zum Ausgleich von Fluktuationen. Wir wissen alle, bei Wind und Sonne – das funktioniert nicht immer. In der Nacht ist es dunkel, wir haben ab und zu Flaute. Und Gaskraftwerke kann man sehr schnell hoch und runterfahren, um damit diese Lücken zu füllen. Das sind jeweils ganz grob gerechnet fünf Gigawatt, also fünf Gigawatt für die Grundlastdeckung und fünf Gigawatt für die Fluktuationen.

    Im Video: Atomkraft: Rettet sie uns vor Klimawandel, Energiekrise, Gasnotstand?

    Mit Kernenergie Gas sparen?

    Possoch: Und um dieses Gas nun einzusparen, könnte die verbliebenen Kernkraftwerke genutzt werden?

    Walther: Für die Fluktuation sind die Gaskraftwerke allererste Wahl. Für die Grundlastdeckung könnte man andere Erzeuger nehmen. Würde man jetzt sagen, man schaltet die Kernkraftwerke nicht ab, könnte man am 1. Januar eben diese fünf Gigawatt Gas, die eingeplant wären, durch Kernenergie decken. Dann hätte man das Gas für andere Zwecke zur Verfügung, zum Beispiel zum Heizen von Wohnungen. Und nur ein Rechenbeispiel: Diese vier Gigawatt Leistung, die unsere drei verbliebenen Reaktoren leisten, würden ausreichenden, um zwei Millionen Haushalte mit Wärme zu versorgen. Wenn ich das Gas eben nicht zur Stromerzeugung nutze, sondern das den Kernkraftwerken überlasse und das Gas in die Häuser für die Gasheizungen leite. Das macht dann eventuell schon einen Unterschied.

    Deutsche Kernkraftwerke: Streckbetrieb zur Verlängerung möglich

    Possoch: Nun ist die Stilllegung der Kernkraftwerke zum 31.12.2022 nur schon lange beschlossene Sache. Verfügen die Kraftwerke denn überhaupt über die benötigten Brennelemente für einen kurzfristig beschlossenen Weiterbetrieb?

    Walther: Das ist natürlich richtig, dass sich die Betreiber keine großen Vorräte hingelegt haben, weil sie eben fest mit diesem Ausstieg gerechnet haben. Das ist aber bei einem Kernkraftwerk anders als bei einem Auto, wo der Tank einfach irgendwann leer ist. Beim Kernkraftwerk kann im sogenannten Streckbetrieb gefahren werden. Da, ich sage es jetzt umgangssprachlich, quetscht man die Brennelemente etwas mehr aus, als man das sonst tun würde. Auf jeden Fall ist dies möglich und diese Rechnung, dass man immer die gleiche Energiemenge aus den gleichen Kernbrennstäben erhält, ist nicht korrekt.

    Possoch: Wie sieht es mit dem Fachpersonal in den Kraftwerken aus im Falle einer Verlängerung der Laufzeit?

    Walther: Die Betreiber haben ja damit gerechnet, dass sie die Leute in den Ruhestand schicken oder in andere Bereiche umwidmen. Die persönlichen Lebenspläne der Mitarbeitenden haben sich da auch angepasst. Das ist aber ebenfalls nach Sache der Betreiber durchaus machbar, wenn man das schnell angeht. Natürlich nicht erst am 1. Dezember, das wäre zu spät.

    Uran: "Wir haben erhebliche Reserven"

    Possoch: Wie sieht es mit dem für den Betrieb der Kraftwerke wichtigen Energieträger Uran aus? Gibt es davon in Deutschland denn noch genug für einen kurzfristigen Weiterbetrieb?

    Walther: Man ist nicht unbedingt immer nur darauf angewiesen, dass man diese 50.000 Tonnen Jahresbedarf an Uran weltweit aktuell in demselben Jahr fördert, sondern wir haben erhebliche Reserven. Man muss sich das vorstellen: Uran wird ja angereichert. Das heißt, ich produziere Uran mit einem höheren Anteil des spaltbaren Uran-235, also das, was in der Natur vorliegt. Jetzt wird das veredelt in einem Sinne, wie man sich das beim Benzin vorstellen kann. Sie können Super Plus beziehen, Super, E10 oder früher gab es auch Normalbenzin. Und sie können durch "Verdünnen" aus dem Super Plus auch die anderen Brennstoffe herstellen. Und das tut man auch in der kerntechnischen Energie. Das nennt man "Downblending". Und dieses "Downblending" aus den höher angereicherten Reserven stünde uns zur Verfügung.

    Possoch: Wie sieht es mit neuen Brennelementen aus?

    Walther: Man könnte weitere Brennelemente kaufen. Sicherlich nicht so viele, um jetzt auf volle Bestückung umzustellen. Aber man bekäme schon für den Winter 22/23 einige Brennelemente. Das hat die kerntechnische Industrie zugesichert. Und man bekäme bis Frühsommer nächsten Jahres genug, um die Kernkraftwerke auch weiterhin betreiben zu können. Also von der technischen Seite ginge das.

    Abhängigkeit von Russland bei Brennelementen?

    Possoch: Ein Anteil der Brennelement-Lieferungen kommt auch aus Russland. Machen wir uns hier nicht wieder erneut abhängig?

    Walther: Also wir haben innerhalb der EU ungefähr 17 Prozent unserer Uranversorgung aus Russland. Etwa nochmal die gleiche Menge kommt aus Kasachstan. Zurzeit ist die Lieferung aus Kasachstan nicht gefährdet. Man kann natürlich sagen, das könnte in der Zukunft so kommen. Ein weiterer großer Lieferant ist Kanada. Da sieht man keine Beschränkungen. Die weltweit größten Vorräte liegen in Australien. Auch die sind jetzt schon ein großer Exporteur und beliefern die EU. Und eine kleine Menge liefern wir tatsächlich selbst an uns innerhalb der EU. Aber das ist nicht entscheidend. Es ist in der Tat weniger. Wir haben auch aus Afrika Lieferungen. Das ist sogar der prozentual gesehen größte Anteil, was wir an Uran bekommen. Also da ist die Abhängigkeit, was das Uran betrifft, sehr viel geringer, als was die fossilen Rohstoffe anbelangt.

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    Prof. Dr. Clemens Walther

    Clemens Walther: Weiterbetrieb kein sicherheitstechnisches Risiko

    Possoch: Wie sieht es mit der Sicherheit der deutschen Kernkraftwerke aus? Die letzte periodische Sicherheitsüberprüfung hätte eigentlich 2019 stattfinden müssen, fiel jedoch aufgrund des Atomausstiegs aus.

    Walther: Man vergleicht das ja immer wieder mit dem TÜV und sagt: Wenn ich das Auto nicht alle zwei Jahre zum TÜV bringe, dann darf ich auch nicht mehr damit fahren. Das ist bei Kernkraftwerken etwas anders, die haben sehr stringente Sicherheitsüberprüfungen. Aber man fährt damit natürlich nicht in irgendeine Teststation. Es ist nicht so, dass man das Kraftwerk nur bis zum 31.12.2022 jetzt hätte fahren können, weil die TÜV-Plakette schon seit drei Jahren abgelaufen ist und dies nun ein sicherheitstechnisches Risiko ist. Das ist nicht korrekt.

    Possoch: Das heißt, diese Sicherheitsüberprüfungen sind nicht dafür da, um akute Sicherheitsmängel festzustellen, wie das zum Beispiel beim Auto-TÜV der Fall ist?

    Walther: Nein, dort wird getestet, ob die Anlagen noch dem aktuellen Stand von Wissenschaft und Technik unterliegen oder ob dort Mängel bekannt werden. Also es geht weniger darum, dass die Kraftwerke jetzt kaputtgegangen sind, sondern dass man nach neuesten Erkenntnissen - zum Beispiel aus Vorkommnissen in anderen baugleichen Anlagen - dort Konsequenzen ziehen muss. Solange man sagt, dass diese theoretische Prüfung am Schreibtisch keinen Handlungsbedarf ergibt, darf das Kraftwerk weiterlaufen. Und wenn das Kraftwerk für eine neue Beladung mit Brennelementen zum Beispiel sowieso abgeschaltet werden muss, dann werden entsprechende nicht dringende Arbeiten vorgenommen.

    Bei begrenzter Laufzeitverlängerung kein Einfluss auf das Atommüll-Endlager

    Possoch: Eines der größten Probleme der Kernenergie ist der radioaktive Müll. Könnte sich die Atommüll-Menge durch einen Weiterbetrieb der Kernkraftwerke nochmal entscheidend vergrößern?

    Walther: Wenn wir jetzt diese drei Kraftwerke weiter betreiben würden – ich sage mal großzügig für drei Jahre – dann würde sie sich diese Menge an Atommüll im niedrigen einstelligen Prozentbereich erhöhen. Das kann man relativ einfach ausrechnen. Das wurde vom "Arbeitskreis Auswahlverfahren Endlagerstandorte" vor ungefähr zehn Jahren schonmal berechnet. Und das wäre technisch auch keine Änderung, die für die Anforderungen an einen Lagerstandort entscheidend wäre. Ob sie jetzt dort um die drei Prozent an Endlagerbehältern mehr oder weniger einlagern müssen, macht keinen Unterschied für die Anforderungen.

    Possoch: Und dennoch scheint die Atommüll-Debatte eine entscheidende Rolle zu spielen?

    Walther: Man hat jetzt einen relativ großen Parteienkonsens und auch einen Konsens in der Bevölkerung, diese Endlagerproblematik lösen zu wollen. Denn man weiß, es sind klar definierte, endliche Abfallmengen. Wenn man jetzt sagen würde, wir lassen noch weitere Reaktoren laufen und das im Extremfall vielleicht sogar erstmal unbefristet, dann wäre diese Abfallmenge nicht mehr komplett begrenzt, sondern dann könnte es mehr werden – zwar nur wenig, aber niemand wüsste, wie viel. Und politisch wäre das vermutlich ein Problem. Würde man sagen, die Kernkraftwerke laufen jetzt nur für ein bis drei Jahre länger, und man könnte zudem sagen, dass das dann diese drei Prozent mehr Atommüll sind, könnte ich mir eine Kompromissfähigkeit durchaus vorstellen. Unser Endlagerstandort wird, wenn wir sehr schnell sind, 2031 gefunden sein. Dann fängt das weitere Erkunden an und dann fängt die technische Umsetzung an. Bis dahin wäre man ja auch mit einem Streckbetrieb, also mit einem Übergang, die Kernkraftwerke am Netz zu halten, längst durch.

    Kernenergie statt Kohleenergie?

    Possoch: Und trotzdem deutet vieles darauf hin, dass anstelle der Kernenergie die Kohleenergie die möglichen Energielöcher Deutschlands stopfen soll. Wie ist Ihre Meinung dazu?

    Walther: Ich denke, die Entscheidung, jetzt Kohlekraftwerke wieder aus der Reserve zu nehmen, fällt einer grünen Partei überhaupt nicht leicht. Auch Länder jetzt um fossile Rohstoffe zu bitten, mit denen man vorher eher weniger gerne Handelskontakte hatte, ist sicherlich eine Entscheidung, die niemand gerne gefällt hat. Das heißt, wir sind jetzt schon in einer Situation, wo man Dinge überdenken muss. Dass der Ausstieg aus der Kernenergie-Nutzung über kurz oder lang aufrechterhalten wird, das stellt, glaube ich, in Deutschland niemand in Frage. Es ginge halt nur darum: Nutzt man jetzt Reserven, die man eh noch hat, oder wird die Kernenergie jetzt eins zu eins durch Kohle ersetzt.

    Possoch: Danke für das Gespräch.

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