Deutschland ist stark auf Gas-Importe angewiesen: Rund 90 Prozent des in Deutschland verbrauchten Erdgases wird aus dem Ausland eingekauft – gut die Hälfte davon kam in den vergangenen Jahren aus Russland. Wie zuverlässig jedoch Gasimporte aus Russland in den kommenden Monaten sein werden, besorgt viele. Die Bundesnetzagentur fürchtet sogar einen Totalausfall im schlimmsten anzunehmenden Fall.
Kommen wir überhaupt ohne russisches Gas durch den Winter? Und wenn ja: unter welchen Bedingungen? Dieser Frage geht das aktuelle "Possoch klärt" nach (Video unten). Claudia Kemfert, Wirtschaftswissenschaftlerin und Leiterin der Abteilung Energie, Verkehr und Umwelt am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung gibt gegenüber BR24 leichte Entwarnung: "Wir sind nicht aufgeschmissen – auch ohne russisches Gas." Dennoch hätte Deutschland einige Aufgaben zu bewerkstelligen.
Gaslieferungen: Wie zuverlässig ist Russland?
Die Gaslieferungen von Russland nach Europa und damit auch Deutschland könnten in den kommenden Monaten geringer ausfallen als bisher oder gar ganz ausfallen. Hierbei spielt auch die derzeitige Wartung der Ostseepipeline Nord Stream 1 eine Rolle: Ob und in welchem Ausmaß die Gaslieferungen nach den geplanten Wartungsarbeiten wieder anlaufen, ist derzeit nicht klar.
Die Pläne Deutschlands, sich zunehmend von russischen Gaslieferungen unabhängig zu machen, brauchen Zeit und – im Falle von Alternativen wie beispielsweise Flüssiggas (LNG) – hohe finanzielle Investitionen. Nicht nur müssen andere Gas-Lieferanten gefunden werden, sondern auch der Aufbau der Infrastruktur lässt sich nicht auf einmal für den kommenden Winter bewerkstelligen.
Verbraucherzentrale: Mieter und Einkommensschwache am stärksten getroffen
Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) warnte jüngst vor einer sozialen "Zerreißprobe […], die wir lange so nicht hatten", wenn im Falle eines absoluten Gasnotstands der Staat über die Verteilung von Gas entscheiden müsse. Für Thomas Engelke von der Bundesverbraucherzentrale indes ist schon klar, dass die gestiegenen Gaspreise schon jetzt große soziale Auswirkungen haben.
"Da haben wir jetzt schon in diesem Jahr massive Preiserhöhungen, zum Teil eine Verdoppelung der Gaspreise oder mehr, gesehen. Wir rechnen damit, dass schon jetzt ein Haushalt mit einem durchschnittlichen Gasverbrauch 1.000 bis 2.000 Euro zusätzlich zahlen muss." Thomas Engelke, Verbraucherzentrale Bundesverband
Wenn der Gaspreis noch stärker steige und an die privaten Haushalte weitergereicht werden könne, rechnet die Verbraucherzentrale mit noch viel höheren Kosten für Verbraucher. "Das ist natürlich ein Riesenproblem für viele," sagt Engelke gegenüber BR24. Insbesondere Mieter, die häufig keinen eigenen Vertrag mit einem Anbieter haben, sind Engelke zufolge davon betroffen.
Im Video: Gasnotstand: Kommen wir ohne Putins Gas durch den Winter? Possoch klärt!
Energieexpertin Kemfert (DIW) gibt leichte Entwarnung
Dass es tatsächlich zu einem Gasnotstand in Deutschland kommen wird, sieht Energieexpertin Claudia Kemfert vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung im BR24-Interview als unwahrscheinlich an: "Wir werden auch im Winter über 60 Prozent unseres Gases bekommen. Es ist sehr unwahrscheinlich, dass jetzt alle Gaslieferanten ausfallen, das heißt, wir auch die Speicher gut gefüllt haben werden."
Um dem Szenario eines Gasnotstands frühzeitig entgegenzuwirken, empfiehlt Kemfert im Interview mit BR24 einen umfassenden Maßnahmenkatalog.
"Ich bezeichne das immer als 'ASSA-Formel': Das Erste ist das Ausweichen, sprich, man muss aus anderen Ländern Gas beziehen. Das tun wir auch schon aktuell. Wir bekommen mehr Gas aus Norwegen, Niederlande, aber auch andere Länder können mehr liefern. Das ist dann auch Flüssiggas über die Terminals in Belgien oder Holland oder Frankreich. Das Zweite ist das Speichern: Die Speicher müssen befüllt werden, möglichst voll bis zum Winter. Das Dritte ist das Sparen, Sparen, Sparen. Da müssen wir sehr viel tun. Die Industrie hat Optionen und bewirbt sich da auch im Moment und bekommt Entschädigung. Die Haushalte müssen auch sparen. Und das Vierte ist Ausweiten, nämlich die erneuerbaren Energien müssen deutlich schneller ausgebaut werden." Prof. Dr. Claudia Kemfert, Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung
Erst gegen Ende und im Falle eines sehr kalten Winters könne unter Umständen die Diskussion über eine mögliche Gas-Triage aufkommen. Privathaushalte gehören neben Krankenhäusern, Feuerwehr, Polizei und Gaskraftwerken, die für die Wärmeversorgung von Haushalten sorgen, laut dem Notfallplan Gas zu den geschützten Verbrauchergruppen.
Gasspeichergesetz: Fokus auf volle Gasspeicher
Ein Kernelement, auf das die Bundesregierung bei der Gasversorgungssicherheit im kommenden Winter setzt, ist die Befüllung von Gasspeichern. Nachdem deutsche Gasspeicher im vergangenen Winter ein historisches Tief erreicht hatten, hat Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck sie in diesem Jahr per Ministerbeschluss im sogenannten Gasspeichergesetz angeordnet.
Gasspeicherbetreiber müssen gewährleisten, dass ihre Gasspeicher zu bestimmten Stichtagen festgelegte Füllmengen erreicht haben: Zum 1. November etwa sollen die Gasspeicher zu 90 Prozent gefüllt sein. So soll in der Heizperiode zwischen Oktober und April zusätzlich sichergestellt werden, dass es genug Gas gibt.
Derzeit sind die Gasspeicher in Deutschland zu rund 65 Prozent mit Erdgas gefüllt. Insgesamt fassen sie etwa 240 Terawattstunden Gas. Der Jahresdurchschnittsverbrauch und somit -bedarf in Deutschland liegt jedoch mit 1.000 Terawattstunden – von denen der Großteil während der Heizperiode in den Wintermonaten verbraucht wird.
Volle Gasspeicher allein reichen nicht für ganzen Winter
"Die Speicher sind eigentlich nicht dazu da, genug Gas für den ganzen Winter vorzuhalten", sagt Niko Bosnjak von Deutschlands größtem Fernleitungsnetzbetreiber für Erdgas "Open Grid Europe". Stattdessen sind sie als Zwischenspeicher angelegt worden.
"Um das von den Relationen Ihnen noch mal klarzumachen: Wir verbrauchen in Deutschland 1.000 Terawattstunden Gas im Jahr. 90 Prozent davon werden importiert: also insgesamt 900 Terawattstunden. Unsere Speicher wiederum sind aber nur 240 Terawattstunden groß. Das ist ungefähr ein Viertel des Jahresverbrauchs." Niko Bosnjak, Open Grid Europe
Selbst vollständig gefüllte Gasspeicher können somit nur ein Element der Gas-Versorgungssicherheit sein. Es braucht weiter auch regelmäßige Erdgasimporte, um die Versorgung zu sichern.
Kemfert: "Wir bezahlen jetzt den Preis der verschleppten Energiewende"
Die derzeitige Entwicklung sieht Energieexpertin Kemfert als Folge der Energiepolitik der vergangenen Jahre. "Es ist eben so, dass wir tatsächlich jetzt den Preis der verschleppten Energiewende bezahlen. Wir sind zu abhängig vom Gas zum einen, das ist richtig, aber zum anderen vor allen Dingen vom russischen Gas", erläutert Claudia Kemfert im BR24-Interview.
Die offene und ehrliche Kommunikation mit Blick auf die Gasversorgung ist nach Ansicht Kemferts der richtige Weg. Das dürfe jedoch nicht in "Angst und Schrecken" umgemünzt werden.
Im Video oben erfahren Sie, was Sie über den befürchteten Gasnotstand und die Versorgungssicherheit in Deutschland wissen sollten. Diskutieren Sie gerne in den Kommentaren mit.
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