Ein Autofahrer wird auf Corona getestet
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Ein Autofahrer wird auf Corona getestet

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Coronavirus: Der Inzidenzwert zwischen Zielsetzung und Kritik

Je stärker die Coronazahlen steigen, umso mehr rücken die Schwellenwerte in den Fokus. 50 Neuinfektionen in einer Woche pro 100.000 Einwohner: Das ist die Inzidenzgrenze. Ein #Faktenfuchs zur Zielsetzung und aktueller Kritik an dieser Zahl.

Bund und Länder haben im Mai für den Corona-Inzidenzwert einen Grenzwert von 50 festgelegt: Werden innerhalb von sieben Tagen so viele oder mehr Neuinfizierte pro 100.000 Einwohner registriert, müssen stärkere Maßnahmen zur Eindämmung der Epidemie umgesetzt werden. Eine Art Notbremsung soll einsetzen.

  • Dieser Artikel stammt aus 2020. Alle aktuellen #Faktenfuchs-Artikel finden Sie hier

Der Schwellenwert von 50 in der Kritik

An dem Schwellenwert von 50 Neuinfizierten pro Woche und 100.000 Einwohnern gab es von an Anfang an Kritik. So betrachtete der Bundesverband der Ärzte des Öffentlichen Gesundheitsdienstes den Grenzwert Anfang Mai als viel zu hoch. "Wie die Gesundheitsämter damit klarkommen sollen, ist mir ein Rätsel", sagte damals die Vorsitzende Ute Teichert. Auch Berlin und Niedersachsen waren der Ansicht, es sei zu spät, erst bei dem Grenzwert von 50 auf die Bremse zu treten. Bayern, aber auch andere Bundesländer, haben den zusätzlichen Frühwarnwert von 35 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohnern eingeführt.

Damals wie heute wird auch die Basis für die Zahl hinterfragt. Stefan Willich, Direktor am Institut für Epidemiologie an der Charité Berlin, sagte am 6. Oktober im Interview mit dem rbb-Inforadio:

"Man hat vor mittlerweile fünf Monaten diesen Schwellenwert von 50 sogenannten Neuinfektionen pro Woche pro 100.000 definiert. Das schien damals präzise, war aber immer nur ein grober Anhaltspunkt." Stefan Willich, Direktor am Institut für Epidemiologie an der Charité Berlin

Es würde jetzt viel mehr getestet als im Frühjahr, sodass durch die Anzahl der Testungen die Wahrscheinlichkeit höher sei, dass der Wert überschritten wird.

Und der Professor an der Charité kritisiert, dass der Bezugsrahmen fehle: "Man müsste das beziehen auf repräsentative Stichproben, die jetzt erst beginnen. Das Robert-Koch-Institut startet jetzt eine große deutschlandweite repräsentative Stichprobe", so der Epidemiologe. Derzeit spiegelten die festgelegten Werte eine Mischung aus Zufallsbefunden und freiwilligen Testungen wider. Außerdem sei die Dunkelziffer "weiterhin sehr unbekannt". Aus ärztlicher Sicht sei die Zahl 50 "nicht wirklich belastbar". Der Berliner Mediziner rechnet mit neuen Definitionen in den nächsten Wochen.

KVB: Aktuell wäre 84 pro 100.000 Einwohner angemessen

Andreas Gassen, der Vorstandsvorsitzende der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV), hat vor wenigen Tagen in der "Neuen Osnabrücker Zeitung" den Schwellenwert von 50 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohnern kritisiert. Diese Zahl 50 stamme aus einer Zeit, als es wöchentlich 400.000 Tests gab und die Positiv-Rate hoch war. Inzwischen werde dreimal so viel getestet bei viel weniger Test-Positiven.

"Die Zahl muss den Entwicklungen angepasst werden, unter Berücksichtigung der niedrigeren Positivquote käme man aktuell auf einen Schwellenwert von 84 pro 100.000." Andreas Gassen, der Vorstandsvorsitzende der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV)

Als alleiniger Indikator für das Ergreifen einschneidender Maßnahmen sei die Zahl ungeeignet. Warnungen, die Pandemie könnte außer Kontrolle geraten, wertete er als überzogen. Gassens Ansicht nach wären selbst 10.000 Infektionen täglich "kein Drama", wenn nur einer von 1.000 schwer erkranke, wie das momentan der Fall sei.

Inzidenzwert mit bundesweiter Vergleichbarkeit

Als der Inzidenzwert festgelegt wurde war im Vorfeld des politischen Entschlusses das Robert Koch-Institut beratend tätig. "Generell ist ein konkreter, pragmatischer Wert sinnvoll, um eine verständliche Kennzahl zu haben", heißt es vom Robert Koch-Institut (RKI). "Grundgedanke der vereinbarten Regelung ist die Schaffung einer bundesweiten Vergleichbarkeit der Infektionszahlen in der Corona-Pandemie", ergänzt ein Sprecher des bayerischen Gesundheitsministeriums.

Auf die Frage, warum nur die Neuinfektionen die Basis bilden, gibt der Ministeriumssprecher keine direkte Antwort, sondern den Hinweis, dass neben der Inzidenzgrenze auch andere Faktoren miteinbezogen würden wie "die Analyse des lokalen Ausbruchsgeschehens". Dieses könne eingegrenzt oder diffus verteilt sein. Bei einem begrenzten Ausbruch wie zum Beispiel im August auf einem Gemüsehof im niederbayerischen Mamming könne anders reagiert werden als bei Corona-Ausbrüchen, die verstreut in der Bevölkerung auftreten und deren Infektionsketten sich vielleicht nicht mehr vollständig nachverfolgen lassen.

"Selbstverständlich betrachten die Behörden vor Ort dabei auch weitere Faktoren, etwa die Auslastung der Intensivbetten oder die Geschwindigkeit, mit der die Zahl der Infektionen zunimmt." Ein Sprecher des bayerischen Gesundheitsministeriums

In Bayern habe sich das System aus dem Signalwert von 35 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohnern in den letzten sieben Tagen und der Inzidenzgrenze von 50 bereits bewährt.

Die Sieben-Tages-Spanne

Mit der gewählten Zeitspanne von einer Woche sollen Unregelmäßigkeiten bei den Meldungen, zum Beispiel am Wochenende, ausgeglichen werden. "Die 7-Tage-Inzidenzen betrachten am besten die tatsächlichen, aktiven Fälle und beschreiben gut das aktuelle, aktive Infektionsgeschehen, auch bei geringen Fallzahlen auf Landkreis-Ebene", sagt der Sprecher aus dem bayerischen Gesundheitsministerium.

Am ansteckendsten sind Corona-Infizierte um den Beginn der Krankheitssymptome herum – ein paar Tage davor und ein paar Tage danach. Wie lange sie insgesamt ansteckend sind, ist laut der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung noch nicht festgelegt. Gesichert sei aber, dass die Ansteckungsfähigkeit mit dem Verlauf der Erkrankung geringer wird. Bei mildem oder moderatem Verlauf von Covid-19 sei es "äußerst unwahrscheinlich", dass ab dem zehnten Tag nach Auftreten der Krankheitssymptome andere noch angesteckt werden.

PCR-Tests lassen eine Lücke

Ein PCR-Test fällt erst dann positiv aus, wenn die Person bereits seit ein paar Tagen infiziert ist und sich die Viren im Körper schon vermehrten. Dadurch könne laut RKI ein bedeutsamer Faktor für das Infektionsgeschehen nicht erfasst werden. Denn ein relevanter Anteil von Personen stecke andere bereits in den ein bis zwei Tagen vor Symptombeginn an. "Das heißt, unabhängig vom späteren Krankheitsverlauf, sind auch präsymptomatische Personen ein relevanter Faktor für das Infektionsgeschehen", so das RKI. Allerdings zeigen PCR-Tests Infektionen auch dann an, wenn die Person keine Symptome hat, also zwar infiziert ist, aber vielleicht nicht an Covid-19 erkranken wird.

Dass ein Test positiv ausfallen könnte, obwohl die Person gar nicht erst infiziert ist, halten Wissenschaftler für äußerst unwahrscheinlich. "Die RKI-Kollegen gehen, wie unter anderem auch die österreichische Gesellschaft für Labormedizin, von einer analytischen Spezifität von mehr als 99,9 Prozent aus", heißt es aus der Presseabteilung des Robert Koch-Instituts. In einer früheren #Faktenfuchs-Recherche stufte auch Hans Nitschko vom Max von Pettenkofer-Institut der LMU in München die Option der falsch-positiven Ergebnisse ebenfalls als "theoretisch möglich, aber extrem unwahrscheinlich" ein. Die Tests würden vor ihrer Verwendung genau überprüft, ob sie auf das Erbgut von SARS-CoV-2 reagieren.

Fazit

Der Corona-Inzidenzgrenzwert ist laut RKI und bayerischem Gesundheitsministerium darauf ausgelegt, konkret, pragmatisch, verständlich und bundesweit vergleichbar zu sein. Der Zählung werden positive Testergebnisse zugrunde gelegt. Diese PCR-Tests sind nach Aussage verschiedener Wissenschaftler sehr sicher, können jedoch eine Infektion in den ersten Tagen nach der Ansteckung nicht nachweisen. Dadurch wird laut Robert Koch-Institut ein "relevanter Faktor für das Infektionsgeschehen" nicht erfasst. Der Kritik, dass mit dem Inzidenzgrenzwert nur positiv Getestete erfasst werden, ohne zum Beispiel eine tatsächliche Erkrankung oder den Grad der Erkrankung zu berücksichtigen, entgegnet das Bayerische Gesundheitsministerium, dass neben dem Inzidenzwert weitere Faktoren zur Beurteilung der Lage herangezogen werden. Das sind zum Beispiel der Verlauf des Infektionsgeschehens oder die Auslastung der Intensivbetten. Inzwischen äußert zum Beispiel die Kassenärztliche Bundesvereinigung die Kritik, dass der vor Monaten festgelegte Schwellenwert von 50 heute nicht mehr angemessen sei.

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