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Ist der Corona-Inzidenzwert noch aussagekräftig, wenn viele geimpft sind?

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Corona: Ist die Sieben-Tage-Inzidenz noch aussagekräftig genug?

Seit Wochen steigt die Sieben-Tage-Inzidenz in Deutschland wieder – zugleich ist inzwischen jeder zweite Deutsche vollständig geimpft. Was heißt das für die Corona-Maßnahmen? Brauchen wir neue Messgrößen, um die Pandemie zu beurteilen?

Über dieses Thema berichtet: radioWelt am .

Nach einer Zeit mit wenigen Neuinfektionen zeigt die Kurve der Corona-Neuinfektionen derzeit wieder nach oben, die Delta-Variante breitet sich aus. Zugleich sind aber zunehmend mehr Menschen in Deutschland vollständig geimpft und weniger Ältere erkranken. Experten und Expertinnen diskutieren deshalb, ob statt der bisher maßgeblichen Kennziffer für Corona-Maßnahmen, der Sieben-Tage-Inzidenzwert – also die Zahl der Neuinfektionen während einer Woche gemittelt über die Bevölkerung - andere oder zumindest weitere Messgrößen berücksichtigt werden sollten.

Bereits vor wenigen Wochen hatte sich die Virologin Ulrike Protzer dafür ausgesprochen, neben den Inzidenzwerten auch Belegungszahlen mit Covid-Patienten in den Kliniken in die Berechnung der Corona-Lage einfließen zu lassen. Und auch die Deutsche Krankenhaus Gesellschaft (DKG) legte am 31. Juli 2021 ein Konzept zur umfassenden Bewertung der Pandemie-Lage vor. Neben der Inzidenz fordert die DKG weitere konkrete Kennzahlen zur Beurteilung der Pandemie. "Dazu gehören die Hospitalisierungsrate, eine altersstratifizierte Impfquote, die Belegung von Intensivkapazitäten, die Positivrate an Tests und die Steigerungsquoten, sowohl der Inzidenz als auch der Hospitalisierungsraten. (...) Allein die Inzidenz noch als Maßgabe dafür zu nehmen, wenn Beschränkungen von Grundrechten im Herbst erfolgen könnten, ist absolut nicht mehr ausreichend", erklärte der Vorstandsvorsitzende der DKG, Dr. Gerald Gaß.

Kliniken müssen mehr Daten sammeln

Zusätzliche Daten zur Beurteilung der Infektionslage in Deutschland stehen spätestens seit dem 13. Juli in den Krankenhäusern zur Verfügung. Denn nach einer neuen Verordnung des Bundesgesundheitsministeriums müssen Kliniken künftig mehr und unterschiedlichere Angaben zu ihren Corona-Patienten melden. "Vor allem müssen jetzt Informationen zum Impfstatus, zum Antikörperstatus und andere erkrankungsrelevante Informationen übermittelt werden", sagt der Infektiologe Christoph Spinner, leitender Oberarzt am Münchner Klinikum Rechts der Isar.

Die Hoffnung: Durch den Abgleich der Daten soll die Belastung für das Gesundheitssystem in geringem zeitlichen Abstand zum Infektionsgeschehen eingeschätzt werden können. Bislang mussten die Kliniken nur an das DIVI-Intensivregister der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin melden, wie viele Patienten auf die Intensivstationen verlegt werden müssen.

Sieben-Tage-Inzidenz bleibt wichtig

Nach wie vor – da sind sich die meisten Wissenschaftler einig – lohnt aber ein genauer Blick auf den Inzidenzwert. "Die Sieben-Tage-Inzidenz bleibt genauso wichtig, wie sie vorher war", sagt Professor Christian Karagiannidis, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Internistische Intensivmedizin und Notfallmedizin. Denn dieser Wert sage klar, wie sich das Virus in der Bevölkerung ausbreitet. Da aber bereits viele Ältere geimpft sind, sei bei gleicher Inzidenz nicht zu erwarten, dass genauso viele Patienten auf der Intensivstation landen wie in den ersten drei Wellen der Corona-Pandemie in Deutschland.

Klinikbelegung und Belastung der Intensivstationen relevant

Der Mediziner schlägt deshalb eine Differenzierung des Inzidenz-Wertes nach Alter vor, geteilt in eine Inzidenz für über 50-Jährige und für unter 50-Jährige. Das sei ein passendes Frühwarnsystem für die Pandemie-Entwicklung in der Bevölkerung. Der Internist und Intensivmediziner am Klinikum Köln-Merheim sagte im BR24 Thema des Tages, zudem sei es wichtig zu erheben, wie viele Menschen ins Krankenhaus kommen – und wie viele von denen, die ins Krankenhaus kommen, dann auch auf der Intensivstation landen. "Dann haben wir drei relativ verlässliche Marker, an denen wir ablesen können, wie stark sich die Infektion in der Bevölkerung ausbreitet und wie viele auf der Intensivstation landen und auch wirklich schwer erkranken."

Inzidenz und neuer Indikatorenmix

Dem stimmt auch Statistik-Professor Helmut Küchenhoff von der Ludwig-Maximilians-Universität München zu. In einem Interview vom 9. August 2021 äußerte er sich zu dem Thema "Inzidenzen und neuer Indikatorenmix". Seiner Meinung nach ist die Inzidenz nicht mehr als alleiniges Maß gut geeignet. Relevant seien schwere Fälle und Todesfälle. Bessere Messgrößen sind daher die Aufnahmen in Krankenhäusern bzw. in Intensivstationen.

Küchenhoff vergleicht die Situation in Deutschland mit der in Großbritannien. Dort sind die Krankenhaus-Rate und die Zahl der Menschen mit schweren Verläufe deutlich niedriger. Abzulesen ist das an den Inzidenzen der über 60-Jährigen. Diese Zahl sich anzuschauen sei besser als wenn man die Inzidenz über alle Altersgruppen hinweg misst. Denn wenn in den jüngeren Altersgruppen die Inzidenzen höher gehen, sei das nicht besonders gefährlich, weil es dort nur ganz wenige schwere Verläufe gibt, bekräftigt Küchenhoff.

Im Hinblick auf die Ministerpräsidenten-Konferenz am heutigen Dienstag findet Küchenhoff, es sollte keine drastischen Maßnahmen bei einer Inzidenz von 50 geben. Maßnahmen müssten gut begründet sein und das sind sie durch die Inzidenzen nicht mehr so wie noch im vergangenen Jahr.

Für ihn ist ein neuer Mix, mit dem sich die Situation gut bewerten lässt: Die Inzidenz der über 50- oder 60-Jährigen betrachten, die Neuaufnahmen in Krankenhäusern, die Neuaufnahmen in Intensivstationen und die Auslastung der Intensivstationen. Küchenhoff betont ausdrücklich, es sei wichtiger, die über 60-Jährigen zu hundert Prozent zu impfen als eine Impfung für 12- bis 18-Jährige zu fordern.

Das Ziel: eine Datenautobahn

Da mehr Messwerte eine sichere Beurteilung der Infektionslage versprechen, begrüßen auch Infektiologe Christoph Spinner und viele seiner Kollegen die größere Datensammlung – auch wenn sie den Medizinern viel Arbeit macht. "Die Schwierigkeit für uns besteht heute darin, dass wir mit sehr hohem Aufwand diese Informationen in den IT-Systemen der Klinik erheben müssen", sagt Mediziner Spinner. Zumal die Daten zugleich noch in ein Papierformular übertragen und mehrfach während eines Patientenaufenthaltes an die Gesundheitsämter gefaxt werden müssen.

Notwendig, so die Forderung von Spinner, sei deshalb eine Art Datenautobahn für Patientendaten. Und Christian Karagiannidis bestätigt: "Die Datenerfassung erfolgt im Moment leider noch nicht automatisiert, das sollte aber unser Top-Ziel für die kommenden Monate sein." Es sei wichtig, passende Schnittstellen zu entwickeln, um Daten automatisiert aus Krankenhausinformationssystemen zu gewinnen. "Diese Daten sollten dann unabhängig von wirtschaftlichen Interessen zentral erfasst und öffentlich zugänglich gemacht werden."

Die umfangreichen Daten zum Infektionsgeschehen zu sammeln ist also die eine Seite der Medaille. Sie adäquat zu ordnen und nutzen zu können, um dem Inzidenzwert zusätzliche Messgrößen zur Seite zu stellen, ist die andere.

Flur eines Krankenhauses (Symbolbild)
Bildrechte: picture-alliance/dpa
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Fachleute fordern neue Parameter für die Bewertung der Corona-Lage.

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