13.09.2021, Russland, Mulino: Wladimir Putin, Präsident von Russland, hält während der gemeinsamen strategischen Übung der Streitkräfte von Russland und Belarus auf dem Truppenübungsplatz Mulino in der Region Nischni Nowgorod ein Fernglas in den Händen.
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Wirtschaftsexperte: "Putin versucht Europa zu spalten"

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Wirtschaftsexperte: "Putin versucht Europa zu spalten"

Die Auswirkungen des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine treffen auch Deutschlands Wirtschaft schwer. DIW-Leiter Professor Marcel Fratzscher erklärt im BR24-Interview, mit welchen Problemen die deutsche Wirtschaft in Zukunft zu kämpfen hat.

Über dieses Thema berichtete Possoch klärt am .

Die wirtschaftlichen Folgen des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine, wie Energiekrise und hohe Inflation stellen nicht nur Deutschland, sondern ganz Europa vor große Herausforderungen.

Marcel Fratzscher, Ökonom und Chef des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, erklärt im Video "Possoch klärt" für BR24, welche Probleme die deutsche Wirtschaft nun erwarten muss, aber auch welche Möglichkeiten die aktuelle Situation mit sich bringt.

Dominic Possoch: Herr Fratzscher, wo steht die deutsche Wirtschaft aktuell?

Marcel Fratzscher: Die deutsche Wirtschaft befindet sich wahrscheinlich schon jetzt in einer Rezession. Wir reden von zwei Quartalen, in denen die Wirtschaft hintereinander schrumpft. Das dritte Quartal war wahrscheinlich negativ. Auch jetzt zum vierten Quartal sind wir am Schrumpfen und wir werden wohl auch im kommenden halben Jahr eher eine schrumpfende Wirtschaft sehen. Hoffentlich nicht dramatisch. Das sind zumindest die wahrscheinlichsten Prognosen, auf die wir hoffen.

Das heißt vor allem auch einen starken Rückgang des privaten Konsums, da Menschen mit geringen Einkommen besonders hart betroffen sind. Das ist ungewöhnlich an dieser Rezession. Der Lichtblick ist dabei vielleicht, dass wir keinen starken Anstieg der Arbeitslosigkeit erwarten, zumal sehr viele offene Stellen frei sind und Unternehmen händeringend suchen.

Aber es wird wahrscheinlich ein sehr schwieriges Jahr und danach wahrscheinlich auch eine schleppende Erholung. Denn von einer so tiefen Krise, die ja auch permanent für die nächsten fünf Jahre sich über höhere Energiepreise widerspiegeln wird, wird es eine sehr, sehr schwierige Erholung werden.

Menschen mit mittlerem Einkommen von Krise besonders betroffen

Possoch: Wer ist von dieser Rezession nun alles besonders betroffen?

Fratzscher: Von dieser Rezession sind alle betroffen. Normalerweise sagt man, bei einer Rezession sind es vor allem die Unternehmen, die ihre Investitionen kürzen müssen und damit die Rezession noch einmal vertiefen. Jetzt sind es aber die Menschen, also Konsumentinnen und Konsumenten. Ganz konkret sind es vor allem Menschen mit mittleren Einkommen, die über höhere Energiepreise, höhere Inflation, höhere Nahrungsmittelpreise viel stärker betroffen sind als andere.

Denn sie werden nun mehr von ihrem Einkommen für die Dinge ausgeben, die jetzt teurer geworden sind. Heißt, sie müssen ihren Konsum anderswo zurückfahren. Und das bedeutet, man geht weniger weg, man reist weniger, man geht weniger einkaufen. Also der Einzelhandel, die Reisebranche, die Gastronomie, die werden hart getroffen sein in den kommenden Monaten. Gleichzeitig natürlich auch die Industrieunternehmen, die viel Energie brauchen, weil das im Augenblick besonders teuer geworden ist.

Im Video: Führt Putin auch Krieg gegen Deutschland? Possoch klärt!

Hohe Energiepreise zu 80 Prozent für Rezession verantwortlich

Possoch: Wo liegt der Ursprung dieser Rezession? Sind wir in einem Wirtschaftskrieg mit Russland?

Fratzscher: Ich weiß nicht, ob wir in einem Wirtschaftskrieg mit Russland sind. Das würde ja bedeuten, dass es dort eine gewisse Symmetrie gibt. Das ist nicht so. Wir waren viel zu abhängig von russischem Gas und Öl. Über die Hälfte unseres Gases kam aus Russland, fast ein Drittel des Öls. Und das fließt jetzt nicht mehr. Heißt, wir müssen diese Energieträger irgendwo anders her besorgen, aus Norwegen, aus Belgien, aus den Niederlanden und aus anderen Ländern.

Und diese hohen Energiepreise sind für 80 Prozent dieser Rezession verantwortlich. Also ich würde nicht sagen, dass wir in einem Wirtschaftskrieg sind. Russland hat völlig völkerrechtswidrig ein Land überfallen, hat damit einen Krieg ausgelöst und liefert mittlerweile kein Gas mehr nach Europa oder fast kein Gas mehr. Und das ist eigentlich der Auslöser für diese Krise.

Ganz Europa von Wirtschaftskrise betroffen

Possoch: Ist aufgrund der von Ihnen beschriebenen Abhängigkeit die deutsche Wirtschaft besonders stakt betroffen?

Fratzscher: Von diesen hohen Energiepreisen sind alle Europäer betroffen. Es gibt Länder wie Österreich, die noch viel abhängiger von russischem Gas sind. Aber es stimmt, wir haben in Deutschland eine besonders hohe Abhängigkeit. Leider ist es so, dass wie innerhalb unserer Gesellschaft auch innerhalb Europas die schwächsten Mitglieder am stärksten betroffen sind.

Das sind vor allem zentralosteuropäische Länder, die nicht so tiefe Taschen haben, wo der Staat eben nicht so stark helfen kann. Diese haben nicht eine so resiliente Wirtschaft, wie wir das in Deutschland haben. Also es gibt niemanden in Europa, der von dieser Krise, von diesem Krieg nicht betroffen ist. Deutschland ist hart betroffen, aber das sind alle anderen eben auch.

Kann Putin Europa spalten?

Possoch: Könnte hierdurch auch der Zusammenhalt Europas auf die Probe gestellt werden?

Fratzscher: Ich befürchte genau das ist der Versuch Putins, Europa zu spalten. Und das sollten besonders allen voran wir Deutschen nicht zulassen. Aber das, was wir im Augenblick erleben, ist, dass Deutschland mal wieder einen Alleingang macht. So richtig es ist, Unternehmen und Menschen in dieser Krise bei den Gas- und Strompreisen zu unterstützen, so falsch ist es, das nur national und eben nicht auch europäisch zu denken.

Deshalb muss Deutschland sich hier stärker in Europa engagieren, gemeinsame Lösungen finden. Und das heißt auch, den Ärmsten oder den Schwächsten der europäischen Länder unter die Arme greifen, auch finanziell, damit dort auch die Unternehmen und die Menschen über die Runden kommen können.

Possoch: Das heißt, Deutschland handelt hier zu egoistisch?

Fratzscher: Es kann nicht sein - und das ist ein völlig gerechtfertigter Vorwurf anderer Europäer - dass die deutsche Bundesregierung die deutschen Unternehmen viel stärker unterstützt, die Preise stärker reduziert und an deutsche Unternehmen mehr Subventionen zahlt, um dadurch den deutschen Unternehmen wiederum einen Wettbewerbsvorteil gegenüber französischen, gegenüber italienischen, gegenüber polnischen Unternehmen zu geben.

Dadurch wird dann eigentlich eine Schieflage und eben auch ein Konflikt innerhalb Europas ausgelöst. Das darf die Bundesregierung nicht zulassen. Deshalb muss sie sich stärker in Europa engagieren. Nochmal, das heißt nicht, dass die Bundesregierung weniger Hilfen zahlen sollte, sondern dass die Bundesregierung stärker Verantwortung für Europa übernehmen sollte.

Europa braucht wirtschaftlich faire Bedingungen

Possoch: Wie sollte die Politik ihrer Meinung nach also handeln?

Fratzscher: Es ist die Aufgabe der Politik zu sagen, dass wir hier ein "Level Playing Field" brauchen. Wir brauchen faire Bedingungen. Stellen Sie sich vor, man würde sagen, jetzt gehen die gesamten Hilfen, die die Bundesregierung macht, nach Nordrhein-Westfalen und Bayern und die anderen Bundesländer kriegen nichts. Das wäre dann zwar toll für die Unternehmen in Bayern und Nordrhein-Westfalen. Aber das geht doch nicht den anderen Unternehmen in anderen Bundesländern gegenüber. Und so müssen wir auch über Europa denken.

Wir haben einen Binnenmarkt, einen einheitlichen Markt, wo die Wettbewerbsbedingungen gleich sein müssen. Und das ist eben nicht mehr gewährleistet, wenn hier eine so große Schieflage entsteht, weil irgendeine Regierung deutlich stärker helfen kann als andere.

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Prof. Marcel Fratzscher

Energiekrise: Permanenter Wettbewerbsnachteil für deutsche Unternehmen

Possoch: Das Geschäftsmodell der deutschen Wirtschaft, das auf günstiger Energie basiert, droht nun nicht mehr zu funktionieren. Was erwartet die Unternehmen nun trotz der Hilfen?

Fratzscher: Für viele Unternehmen werden das existenzielle Jahre werden. Denn wir haben eine Wirtschaftsstruktur, die relativ viele energieintensive Unternehmen hat. Viele Unternehmen in Deutschland verlassen sich seit Jahrzehnten auf billiges russisches Gas. Die Politik und auch die Unternehmen haben den Fehler begangen, sehenden Auges - auch in den letzten acht Jahren seit der Annexion der Krim - sich immer stärker in die Abhängigkeit von Russland bei Gaslieferungen zu begeben.

Und das rächt sich jetzt, weil es nun heißt, dass die Preise hier für Gas und für andere Energien deutlich höher als in China, in den USA, in Korea oder Japan sind. Das bedeutet wiederum, dass viele energieintensive Unternehmen in Deutschland und in Europa generell, abwandern werden, weil sie auf günstige Energie angewiesen sind.

Die Alternative ist, dass die Unternehmen pleitegehen. Und ich glaube, da sind wir uns einig, dass das niemand will. Und das lässt sich nicht lösen. Denn auch wenn der Krieg vorbei wäre, werden wir nicht zu den niedrigen Gas- und Ölpreisen wieder zurückkommen, die wir vor dem Krieg hatten. Das ist ein permanenter Wettbewerbsnachteil für deutsche Unternehmen.

Possoch: Das klingt nicht gut.

Fratzscher: Meine Hoffnung ist, dass die Unternehmen sich technologisch anpassen, also dass wir einen viel schnelleren Umstieg von Stahl, so wie es jetzt produziert wird, hin zu grünem Stahl, das über grünen Wasserstoff hergestellt wird, schaffen. Das ist eine technologische Herausforderung und immer noch ein riesiger Kostenfaktor.

Aber da kann die Politik helfen, eben nicht zu sagen, wir subventionieren jetzt für zehn Jahre Energie. Das geht gar nicht. Das kann keine Regierung. Sondern die Regierung kann sagen: Wir helfen euch Unternehmen bei der technologischen Umrüstung und bei der Energieeffizienz, um Einsparungen vorzunehmen und eben schneller den Umstieg auf erneuerbare Energien sowie auf nachhaltige Technologien zu schaffen. Das ist der einzige Weg, den ich sehe, wie wir diese Wirtschaftsstruktur, die wir heute in Deutschland haben, schützen und bewahren können und unsere komparative Stärke schützen können.

Deutsche Wirtschaft bei globalen Schocks besonders verwundbar

Possoch: Trotz der eigentlichen Stärken wirkt die deutsche Wirtschaft ein weiteres Mal auffällig verletzlich. Warum?

Fratzscher: Wir sind in Deutschland besonders verwundbar zu globalen Schocks. Ob das eine Pandemie, ob das jetzt der Krieg oder ob das eine Finanzkrise 2008/2009 ist. Denn unser Wirtschaftsmodell ist eines der Offenheit. Fast die Hälfte unserer Wirtschaftsleistungen sind Exporte, fast jeder zweite Job und sehr viele der gut bezahlten Jobs sind direkt oder indirekt mit Exporten, mit offenen Unternehmen verbunden. Das sollten wir auch nicht ändern.

Sondern wir sollten schauen, wie wir diese Offenheit resilienter, klüger und widerstandsfähiger gestalten können, damit die Unternehmen in künftigen Krisen nicht pleitegehen oder diese Struktur eben nicht so großen Schaden nimmt. Das ist, glaube ich, das, was wichtig ist. Wir können an dieser Vulnerabilität, an dieser Verletzlichkeit nichts ändern. Das war 70 Jahre lang eine große Stärke für Deutschland. In guten Zeiten hilft uns das, am globalen Wohlstand teilzuhaben. In schlechten Zeiten, in Krisen ist es häufig eine Verletzlichkeit.

"Wir werden fünf Jahre eine richtig harte Durststrecke haben"

Possoch: Gibt es noch etwas anderes positives, das sich aus dieser wirtschaftlichen Situation ergeben könnte?

Fratzscher: Meine Hoffnung ist, dass wir jetzt endlich mit diesem Krieg kapieren, dass wir in den letzten 15 Jahren riesige Fehler gemacht haben, indem wir den Ausbau erneuerbarer Energien, den technologischen Wandel Richtung nachhaltige Technologien verpennt haben. Und dass wir jetzt richtig beschleunigen, richtig Tempo machen müssen. Und wenn es gelingt und Deutschland und deutsche Unternehmen führend werden, was sie in vielen Bereichen ja schon bei dieser Transformation sind, dann ist das ein riesiger Wettbewerbsvorteil in fünf oder in zehn Jahren.

Aber ich befürchte, wir werden fünf Jahre eine richtig harte Durststrecke haben. Denn diese Transformation, die geht ja nicht innerhalb von ein, zwei Jahren. Daher fehlt mir die Fantasie für einen Silberstreif, weil wir eben eine Struktur der Wirtschaft haben, die sehr stark auf den energieintensiven Unternehmen, sehr stark auf der Industrie beruht. Wir sind eine sehr offene Volkswirtschaft. Wir können also nicht sagen, es ist uns egal, was im Rest der Welt passiert, wir schotten uns mal ab. Das funktioniert nicht. Fast die Hälfte unserer Wirtschaftsleistung sind Exporte.

Deutsche Solidarität als größte Stärke in der Krise

Possoch: Gleichzeitig ist die deutsche Wirtschaft im Vergleich zum Rest der Welt ja immer noch stark?

Fratzscher: In der Tat. Wir haben viele wichtige Stärken, wie die Struktur mit mittelständischen Unternehmen, die sehr anpassungsfähig, sehr resilient, sehr innovativ sind. Das ist eine riesige Stärke. Dass wir ein hohes Maß an Solidarität haben, ist für mich die größte Stärke. Und das sehen wir jetzt auch mit den Hilfspaketen. Die Bundesregierung will und gibt ja auch eine Menge Geld aus, um Unternehmen und Menschen zu helfen. Es ist häufig nicht zielgenau und nicht gut genug überlegt oder gedacht.

Aber ich denke, wir sollten uns auf die Stärken fokussieren. Die haben wir. Und wenn wir uns darauf besinnen, dann glaube ich, werden wir diese fünf Jahre auch erfolgreich gestalten. Und wir werden in fünf oder zehn Jahren dastehen und sagen: Guck mal her! Der Umstieg auf nachhaltige, erneuerbare Energien, auf neue Technologien, auf Klimaschutz, das ist uns gelungen. Und das wäre uns vielleicht ohne diese Krise nicht so schnell gelungen.

Possoch: Danke für das Gespräch.

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