Am 25. Juni 2020 meldete der frühere DAX-Konzern Insolvenz an.
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Die Wirecard-Konzernzentrale in Aschheim bei München.

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Wirecard - Chronik eines Skandals

Vom deutschen Fintech-Hoffnungsträger zum Pleite-Konzern: Hinter Wirecard liegen turbulente Jahre - vom märchenhaften Aufstieg bis hin zum jähen Absturz. In dieser Woche hat mit einem Prozess die strafrechtliche Aufarbeitung des Skandals begonnen.

Über dieses Thema berichtet: BR24 am .

1998 Die meisten Menschen in Deutschland bezahlen bar oder mit Kreditkarte. Wer schon im Internet unterwegs ist, schreibt E-Mails und surft auf Nachrichten-Seiten. An Online-Bezahldienste denken noch die wenigsten. Das will ein Geschäftsmann aus München ändern. Am 12. Juni 1998 meldet er beim Deutschen Patentamt einen Markennamen an: "Wire Card", Registernummer 39833006. Der Vorläufer des späteren DAX-Konzerns.

1999 Das ist das offizielle Gründungsjahr von Wirecard. So ist es auf der archivierten Firmenseite verzeichnet. Das Unternehmen wächst und hat schon bald über 60 Beschäftigte. Sein Geld verdient Wirecard in erster Linie mit der Zahlungsabwicklung von Porno- und Glückspiel-Seiten im Internet.

2000 Jan Marsalek steigt ins Unternehmen ein, zunächst als "Projektmanager Zahlungssysteme". Der gebürtige Wiener arbeitet sich bei Wirecard stetig nach oben.

Markus Braun wird Wirecard-CEO

2002 Markus Braun wird Vorstandschef bei Wirecard. Der promovierte Wirtschaftsinformatiker kommt von der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft KPMG. Mit Braun, der sich selbst als "pathologischen Optimisten" bezeichnet, nimmt der Aufstieg des Konzerns weiter an Fahrt auf.

2006 Wirecard schafft es in den TecDAX, in den Index der größten Technologie-Unternehmen in Deutschland. Aber Braun will mehr, er will in den DAX. Selbst die eigenen Mitarbeiter belächeln ihn dafür.

2008 Erste Zweifel an den Wirecard-Geschäftszahlen werden laut, geäußert zum Beispiel von Mitgliedern der "Schutzgemeinschaft der Kapitalanleger" (SdK). Daniel Bauer, SdK-Vorstandsvorsitzender, erinnert sich später in einem Interview mit dem BR, Wirecard habe sich mit Blick auf seine Kunden "in Schweigen gehüllt". Als ein SdK-Vorstandsmitglied auf der Hauptversammlung Zweifel an der Unternehmensbilanz artikuliert, sinkt der Wirecard-Aktienkurs dramatisch. Allerdings gerät die SdK danach selbst ins Zwielicht, als herauskommt, dass Mitglieder "short" auf Wirecard-Aktien gegangen sind. Das bedeutet: Sie profitieren davon, dass die Wertpapiere des Aschheimer Zahlungsdienstleisters sinken.

Marsalek wird Wirecard-Vorstand

2010 Jan Marsalek rückt in den Vorstand auf. Als CEO ist er jetzt für das operative Wirecard-Business zuständig und steuert in dieser Funktion auch das angebliche Drittpartner-Geschäft in Asien, das dem Konzern später zum Verhängnis wird. Der Aktienkurs von Wirecard steigt.

2015 "House of Wirecard" – unter diesem Titel veröffentlicht die britische Wirtschaftszeitung "Financial Times" (FT) erste kritische Artikel rund um Wirecard. Im gleichen Jahr übernimmt der Konzern einen indischen Zahlungsabwickler namens GI Retail. Wirecard zahlt 340 Millionen Euro. Unmittelbar davor hatte GI Retail noch für 40 Millionen Euro den Besitzer gewechselt. Bis heute wirft der Deal Fragen auf.

2016 "Zatarra Report" – unter diesem Namen erscheint im Internet ein Bericht, in dem die zunächst anonymen Autoren schwere Vorwürfe gegen Wirecard erheben. "Großflächige Korruption und Betrug", so ist das 101-seitige Papier überschrieben, in dem es u.a. auch um den GI-Retail-Deal geht. 230 Millionen Euro seien in diesem Zusammenhang verschwunden. Kurz darauf kommt heraus, dass britische Aktieninvestoren hinter dem Bericht stecken - Fraser Perring und Matthew Earl. Perring berichtet dem BR im Herbst 2020 in einem Interview, er habe auch der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) eine Kopie zukommen lassen. Ohne Reaktion. Earl erinnert sich ebenfalls später in einem BR-Interview, er und seine Familie seien nach der Veröffentlichung persönlich bedroht worden. Mutmaßlich im Auftrag von Wirecard. Die Staatsanwaltschaft München I nimmt nach dem Bericht Ermittlungen auf, allerdings nicht gegen Verantwortliche des Aschheimer Zahlungsdienstleisters, sondern gegen die Autoren des Zatarra-Reports und gegen einen Journalisten der FT. Wirecard weist alle Anschuldigungen zurück.

"Zwischenschritt" in den DAX

2018 Trotz der Turbulenzen setzt die Börse auf Wirecard. Dem Zahlungsdienstleister gelingt die Aufnahme in den DAX, die Commerzbank muss weichen. Für CEO Markus Braun ein "Zwischenschritt", wie er in einem Interview sagt. Sein nächstes Ziel: Wirecard soll größter Konzern im DAX werden.

2019 Wieder ist es die FT, die brisante Artikel über Wirecard veröffentlicht. Ein Whistleblower hatte der Zeitung über Unregelmäßigkeiten im Wirecard-Geschäft in Singapur berichtet. Wirecard dementiert erneut. Die BaFin verhängt daraufhin ein Leerverkaufsverbot für die Wirecard-Aktie. Ein bis dahin einmaliger Vorgang. "Die BaFin hat durch ihr Verhalten den Markt sogar in die Irre geführt, hat dafür gesorgt, dass Wirecard weiter an Geld kam", sagt Florian Toncar in einem Interview mit dem BR. Der FDP-Politiker wird sich später im Wirecard-Untersuchungsausschuss intensiv mit dem Skandal beschäftigen. Inzwischen ist er Parlamentarischer Staatssekretär im Bundesfinanzministerium, dem Ressort, dem die BaFin unterstellt ist. Nachdem die FT ihre Berichterstattung über manipulierte Geschäftszahlen fortsetzt, beauftragt der Wirecard-Aufsichtsrat im Oktober 2019 die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft KPMG mit einer Sonderuntersuchung der Vorwürfe. Der Anfang vom Ende von Wirecard.

Braun und KPMG - Meinungsverschiedenheiten vor Ad hoc-Meldung

22. April 2020 Wirecard veröffentlicht eine Ad-Hoc-Mitteilung, wonach die KPMG-Sonderuntersuchung "keine Belege für Bilanzmanipulation" geliefert habe. Markus Braun hat KPMG vor der Veröffentlichung den Entwurf dieser Mitteilung per E-Mail zugeschickt. KPMG antwortet dem Wirecard-CEO direkt: "Diese Darstellung entspricht nicht unserer Wahrnehmung der tatsächlichen Gegebenheiten und steht nicht im Einklang mit unserer schriftlichen und mündlichen Berichterstattung." Die Mitteilung erscheint unverändert. Die Chefin einer Kommunikationsagentur, die Braun und Wirecard berät, schickt ihm Stunden später eine schriftliche Presseauswertung. Sie schreibt: "Wir glauben, dass Wirecard angesichts der Umstände nun optimal positioniert ist." Der Plan, wieder die Deutungshoheit zu gewinnen, scheint aufzugehen. Wirecard will die Bilanz für das abgelaufene Geschäftsjahr am 30. April vorlegen. Das wird nicht geschehen, weil die Prüfer von EY, die die Wirecard-Bilanzen über Jahre bestätigt haben, das Testat für die Bilanz 2019 verweigern. Mehrfach muss Wirecard den Termin verschieben.

18. Juni 2020 Um 10.43 Uhr veröffentlicht Wirecard eine Ad-Hoc-Meldung, die an den Finanzmärkten wie eine Bombe einschlägt. Der Konzern muss die Vorlage der Bilanz abermals verlegen, weil EY den Zahlungsdienstleister darüber informiert hat, "dass über die Existenz von im Konzernabschluss zu konsolidierenden Bankguthaben auf Treuhandkonten in Höhe von insgesamt 1,9 Milliarden Euro (dies entspricht in etwa einem Viertel der Konzernbilanzsumme) noch keine ausreichenden Prüfungsnachweise zu erlangen waren". Es gebe Hinweise, dass ein Treuhänder EY gefälschte Belege über das Guthaben auf diesen Konten vorgelegt haben könnte. Seit Tagen versucht Vorstandsmitglied Jan Marsalek von Treuhänder Mark Tolentino, einem Scheidungsanwalt auf den Philippinen, die entsprechenden Belege zu bekommen – offensichtlich vergeblich.

Der Vorstand arbeite "mit Hochdruck daran, den Sachverhalt in Abstimmung mit dem Abschlussprüfer weiter aufzuklären". Am Abend dieses Tages stellt der Aufsichtsrat Marsalek frei. Unmittelbar danach trifft sich Marsalek mit einigen Vertrauten in einem italienischen Restaurant in der Münchner Innenstadt. Einen von ihnen bittet er um die Organisation eines Fluges. Marsalek will sich angeblich auf den Philippinen auf die Suche nach den 1,9 Milliarden machen.

In der Nacht veröffentlicht Wirecard ein Video. CEO Markus Braun gibt, umringt von den Vorständen Susanne Steidl, Alexander von Knoop und James Freis, eine Erklärung ab. "Es kann derzeit nicht ausgeschlossen werden, dass die Wirecard AG in einem Betrugsfall erheblichen Ausmaßes zum Geschädigten geworden ist", erklärt Braun.

Braun in Turbulenzen, Marsalek in Russland?

19. Juni 2020 Um 12.48 Uhr teilt der Konzern die nächste Personalentscheidung mit: "Dr. Markus Braun ist heute im Einvernehmen mit dem Aufsichtsrat der Wirecard AG mit sofortiger Wirkung als Mitglied des Vorstands zurückgetreten." James Freis, den Braun noch wenige Stunden zuvor in dem Video "an Bord" begrüßt hat, übernimmt seinen Posten. Zu diesem Zeitpunkt führt Wirecard Gespräche mit den Banken, die dem Konzern hohe Kredite gegeben haben.

Am Abend besteigt Marsalek auf einem Flughafen nahe Wien ein Kleinflugzeug, das ihn nach Minsk bringt. Dort verliert sich seine Spur. Marsalek ist bis heute flüchtig, gesucht mit internationalem Haftbefehl. Er soll sich in Russland aufhalten. Die Staatsanwaltschaft München I hat schon mehrere Auslieferungsanträge gestellt. Ohne Reaktion von russischer Seite.

23.Juni 2020: Vier Tage später teilt die Staatsanwaltschaft mit, dass sie Markus Braun festgenommen hat. Es bestehe der Verdacht der "unrichtigen Darstellung jeweils in Tateinheit mit Marktmanipulation".

Insolvenz eines DAX-Konzerns

25. Juni 2020 Die um 10.27 Uhr von Wirecard veröffentlichte Ad-Hoc-Mitteilung ist historisch: "Der Vorstand der Wirecard AG hat heute entschieden, für die Wirecard AG beim zuständigen Amtsgericht München einen Antrag auf Eröffnung eines Insolvenzverfahrens wegen drohender Zahlungsunfähigkeit und Überschuldung zu stellen." Ein DAX-Konzern muss in die Insolvenz – das hat es bisher noch nicht gegeben. Die Insolvenzverwaltung übernimmt Michael Jaffé. Er wird in den nächsten Monaten unter anderem zu dem Ergebnis kommen, dass wesentliche Teile des Wirecard-Geschäfts erfunden waren.

Die Schockwellen gehen in den Tagen und Wochen danach quer durch die Republik – über den Banken-Standort Frankfurt, den EY-Hauptsitz in Stuttgart bis nach Berlin. Der damalige Bundesfinanzminister Olaf Scholz und Ex-Kanzlerin Angela Merkel geraten unter Druck. Scholz und sein Haus beaufsichtigen die BaFin, die trotz zahlreicher Hinweise wenig unternommen hat.

Angela Merkel holt die Affäre ein, weil sie im November 2019 bei einem Staatsbesuch in China ein gutes Wort für Wirecard eingelegt hat – nachdem Ex-Bundesverteidigungsminister zu Guttenberg sie zuvor im Rahmen eines persönlichen Treffens im Kanzleramt auf den Konzern aufmerksam gemacht hatte. Der Wirecard-Skandal ist auf dem besten Weg, auch eine Staatsaffäre zu werden.

22. Juli 2020 Die Staatsanwaltschaft meldet weitere Festnahmen. Nach Markus Braun kommen unter anderem der langjährige Geschäftsführer einer Wirecard-Tochterfirma mit Sitz in Dubai in Untersuchungshaft, ebenso der ehemalige Chefbuchhalter.

"Aufsichtschaos" bei Behörden in Bayern?

1. Oktober 2020 Nachdem der Finanzausschuss des Deutschen Bundestages in mehreren Sondersitzungen im Beisein von Olaf Scholz das Thema Wirecard behandelt hat, setzen die Oppositionsfraktionen FDP, Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen einen Untersuchungsausschuss ein. Es geht um die Frage, wie sich die Bundesregierung und die ihr unterstehenden Behörden über Jahre zu Wirecard positioniert und verhalten haben. Das Gremium tagt in den Folgemonaten teilweise bis in die Morgenstunden. Es wertet tausende Seiten Akten aus Ministerien, Behörden und dem Wirecard-Konzern aus und vernimmt zahlreiche Zeugen, darunter die Kanzlerin und mehrere Bundesminister. Markus Braun ist am 19. November 2020 geladen. Er wird direkt aus der Untersuchungshaft in der JVA Gablingen nach Berlin gebracht und in den Sitzungssaal eskortiert. Braun verliest eine kurze Erklärung, Fragen beantwortet er nicht. Auch Vertreter von KPMG, EY, BaFin und bayerischen Behörden vernimmt der Ausschuss. Den Eindruck, den gerade letztere hinterlassen, ist verheerend. Von "Hick Hack" und "Aufsichtschaos" ist die Rede.

29. Januar 2021 Die unrühmliche Rolle, die die BaFin im Wirecard-Skandal gespielt hat, führt zu personellen Konsequenzen. Behördenchef Felix Hufeld muss gehen. Auch Vizepräsidentin Elisabeth Roegele räumt ihren Stuhl. Beides geschieht im Einvernehmen, betont das Scholz-Ressort, das der BaFin als eine der Lehren aus den Vorgängen zusätzliche Befugnisse und Stellen verschafft. Die Behörde bekommt "mehr Biss", teilt das Bundesfinanzministerium am 24. Februar 2021 mit: "Die BaFin erhält erheblich gestärkte Zugriffsrechte und mehr kompetentes Personal, insbesondere Wirtschaftsprüferinnen und Wirtschaftsprüfer, um Bilanzen besser überprüfen zu können."

22. Juni 2021 Der Wirecard-Untersuchungsausschuss übergibt seinen Abschlussbericht an den damaligen Bundestagspräsidenten Wolfgang Schäuble. Drei Tage später debattieren ihn die Parlamentarier im Plenum. Regierung und Opposition ziehen am Ende zwar unterschiedliche Schlüsse. Hängen bleibt, dass das ungeschickte Verhalten verschiedener Behörden das Entstehen des Skandals mindestens begünstigt hat.

Anklage gegen Markus Braun erhoben

10. März 2022 Die Staatsanwaltschaft München I erhebt Anklage gegen Markus Braun, Oliver Bellenhaus und den ehemaligen Wirecard-Chefbuchhalter. Die Vorwürfe wiegen schwer: Untreue, Marktmanipulation, falsche Darstellung der Bilanzen, gewerbsmäßiger Bandenbetrug. Kronzeuge Bellenhaus hat umfassend ausgepackt, Braun stellt sich weiterhin als Opfer dar. Eine Bande rund um Jan Marsalek habe hunderte Millionen Euro hinter dem Rücken von Braun in verschachtelte Firmenkonstruktionen ins Ausland geleitet. Über den mutmaßlichen Aufenthaltsort von Jan Marsalek wird wiederholt in Medienberichten spekuliert. Nachrichtendienste vermuten ihn in Russland. Allerdings bleiben Auslieferungsersuchen deutscher Behörden ohne Ergebnis – bis heute.

8. Dezember 2022 Vor dem Landgericht München I beginnt der Strafprozess gegen das Trio. Am ersten Tag wird die Anklageschrift verlesen, sie umfasst rund 90 Seiten. Ab nächster Woche kommt auch die Verteidigung zu Wort. Bis Ende 2023 sind 100 Verhandlungstage angesetzt.

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