Seit dem Beginn des Wirecard-Prozesses im unterirdischen Gerichtssaal in der Justizvollzugsanstalt Stadelheim im Süden Münchens sitzt der Angeklagte Markus Braun auf einem schwarzen Bürostuhl - und schweigt. Gelegentlich beugt er sich im Verlauf eines Sitzungstages zu seinem neben ihm sitzenden Verteidiger Alfred Dierlamm, tauscht sich mit ihm aus. Vor ihm steht ein aufgeklappter Laptop, in den Braun gelegentlich blickt. Auf den Tag genau seit zwei Monaten geht das jetzt so. Zuletzt hat Braun über Stunden dem ebenfalls angeklagten früheren Wirecard-Statthalter in Dubai, Oliver Bellenhaus, zugehört. Und was Bellenhaus gesagt hat, dürfte Braun nicht gefallen haben.
Bellenhaus hat "gefrickelt" und "gebastelt"
Bellenhaus hat in seinen Stellungnahmen und der anschließenden Befragung durch Richter Markus Födisch das Bild eines Zahlungsabwicklers gezeichnet, in dem das angeblich höchst profitable Geschäft mit so genannten "Drittpartnern" von Wirecard frei erfunden war. Verträge und Umsatzzahlen seien mit Hilfe von Excel-Tabellen "gebastelt" worden, immer wieder habe er, Bellenhaus, etwas "frickeln" müssen, wenn zum Beispiel Wirtschaftsprüfer Belege für Händler-Umsätze sehen wollten.
Kürzlich wollte Födisch wissen, ob es dieses Drittpartnergeschäft mit Firmen wie PayEasy, Al Alam und Senjo gegeben habe. "Ich antworte mit aller Deutlichkeit: Nein", sagte Bellenhaus. Damit hat er sich abermals gegen seinen früheren Chef, Markus Braun, gestellt. Der ehemalige Wirecard-CEO hat über seinen Verteidiger Alfred Dierlamm wiederholt mitteilen lassen, dass er und die Wirecard AG von einer Bande rund um den seit Juni 2020 untergetauchten Ex-Vorstand Jan Marsalek und unter Beteiligung von Oliver Bellenhaus hintergangen worden seien.
Verteidiger von Braun und von Erffa legen Bellenhaus Dutzende Fragen vor
Vor Beginn des heutigen Prozesstages gibt es noch die, wenn auch geringe Hoffnung, dass Braun endlich persönlich seine Sicht der Dinge darstellen wird. Wenn nicht heute, dann spätestens am Donnerstag. Aber diese Hoffnung wird im Laufe des Tages immer geringer. Stattdessen legen Brauns Verteidiger Alfred Dierlamm und das Verteidigungsteam des dritten Angeklagten, Ex-Wirecard-Chefbuchhalter Stephan von Erffa, Bellenhaus einen Katalog mit jeweils Dutzenden Fragen vor. So verlangt Dierlamm zum Beispiel Aufklärung über Firmen, die mit Bellenhaus verbunden sein sollen. Darüber sollen hohe Millionenbeträge, die angeblich Wirecard zugestanden haben sollen, auf Konten in Steueroasen geflossen sein. Und schließlich fragt Dierlamm: "Haben Sie einen Beleg, dass Herr Braun von dem manipulierten TPA-Geschäft gewusst hat?"
Die Anwältin des dritten Angeklagten Stephan von Erffa will von Bellenhaus unter anderem wissen: "Wo haben Sie übernachtet, wenn Sie in München waren? Wen haben Sie darüber vorab informiert? Wen haben Sie aufgesucht, wenn Sie in der Wirecard-Unternehmenszentrale in Aschheim zu Besuch waren?" Bellenhaus-Verteidiger Florian Eder kontert schließlich nach mehreren Stunden Sitzung, dass Bellenhaus die Fragen aktuell nicht beantworten wird. "Die waren ja sehr konkret, bis hin ins Private, wann welches Klopapier benutzt worden ist", sagt Eder – halb ernst, halb spöttisch. Richter Markus Födisch hatte zuletzt drei Verhandlungstage gestrichen, nach Meinung von Prozessbeobachtern auch vor dem Hintergrund, dass die zuletzt etwas hitzige Stimmung im Gerichtssaal etwas heruntergekühlt werden musste.
Prozessbeteiligte rechnen mit Braun-Aussage am Montag
Stand jetzt werden sich sowohl Braun-Verteidiger Dierlamm als auch von Erffa-Verteidigerin Stetter am Donnerstag nochmal ausführlich zu den Angaben des Mit-Angeklagten Oliver Bellenhaus äußern. Dieser Schritt ist in der Strafprozessordnung ausdrücklich vorgesehen. Danach will Richter Födisch, sollte es die Zeit zulassen, Markus Braun zu Wort kommen lassen. Allerdings ist offen, ob Braun dann noch dazu bereit ist. Schließlich dürften sich die Statements bis in den frühen Nachmittag hinziehen.
Braun und Bellenhaus sitzen seit mittlerweile über zweieinhalb Jahren in Untersuchungshaft. Ihnen und dem dritten Angeklagten von Erffa wirft die Staatsanwaltschaft unter anderem Marktmanipulation, falsche Darstellung der Wirecard-Bilanzen und Untreue vor. Der Zahlungsdienstleister war im Juni 2020 in die Pleite gerutscht, weil 1,9 Milliarden Euro, die für Wirecard auf philippinischen Treuhandkonten aufbewahrt werden sollten, bis heute nicht auffindbar sind. Welche Rolle die drei Angeklagten dabei gespielt haben, das soll der Prozess klären. Er dürfte bis Anfang 2024 dauern. Bis jetzt sind insgesamt 100 Prozesstage angesetzt.
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