Leere Tablettenverpackung, Blister
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Rund 200 Millionen Antibiotika-Packungen werden am Ortsrand der Kleinstadt Kundl nicht weit von Kufstein jedes Jahr hergestellt.

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Medikamentenmangel: Antibiotika aus Tirol statt aus Asien

Immer wieder kommt es zu Lieferengpässen bei Medikamenten aus Asien. Dabei betreibt der Pharmakonzern Novartis mit seiner Tochter Sandoz eine der größten Antibiotika-Fabriken weltweit – in Tirol. Die soll nun weiter ausgebaut werden.

"In Deutschland, aber auch in Europa werden keine Antibiotika mehr hergestellt." Mit diesem Satz ließ sich die Präsidentin der Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände, Gabriele Regina Overwiening, im vergangenen Dezember im Interview mit dem Nachrichtenmagazin "Spiegel" zitieren. Was der Apothekerpräsidentin dabei offenbar nicht bewusst war: In Kundl in Tirol betreibt der Schweizer Pharmakonzern Novartis über seine Tochter Sandoz eine der weltweit größten Produktionsstätten für Antibiotika. Und die Novartis-Tochter will die Fertigung weiter ausbauen.

Antibiotika aus Tirol für die Welt

Rund 200 Millionen Antibiotika-Packungen werden am Ortsrand der Kleinstadt Kundl nicht weit von Kufstein jedes Jahr hergestellt. "Wir versorgen damit die Welt, unsere Kapazitäten würden theoretisch ausreichen, Gesamt-Westeuropa mit Penicillin zu versorgen", sagt Michael Kocher, der österreichische Landeschef der Novartis-Tochter Sandoz. Und er betont: Der Standort soll gestärkt werden. Über mehrere Jahre hinweg investiert das Unternehmen 150 Millionen Euro, um die Fertigung auszuweiten und moderner zu machen.

Zuschüsse vom Staat

Allerdings stemmt der Pharmakonzern die Investition nicht alleine. Der österreichische Staat legt 50 Millionen Euro aus Steuergeldern oben drauf. Das sei aber nicht nur eine Sicherung des Standorts mit rund 5.500 Beschäftigten, findet Kocher. Er sieht darin auch eine Stärkung der medizinischen Infrastruktur.

In Kundl wird aus Penicillium-Pilzen das klassische Antibiotikum Penicillin gewonnen, sowie der Grundstoff für das Antibiotikum Amoxicillin. Die Fertigung sei nach den Umbauarbeiten endgültig "vollintegriert", betont Kocher. Das heißt: Vom Füttern der Penicillium-Pilze mit Zuckerlösung in großen sogenannten Fermentern über die Herstellung der Tabletten bis zur Verpackung geschieht alles an einem Ort.

Der Sandoz-Mutterkonzern Novartis betreibt die Produktion freilich nicht aus Gemeinwohlorientierung, sondern weil sich damit Geld verdienen lässt. Das gelinge bisher auch, sagt Kocher. Aber der drastische Anstieg der Energiepreise im vergangenen Jahr macht ihm Sorgen. Das Werk in Kundl verbraucht knapp 550.000 Megawattstunden Elektrizität im Jahr, das ist etwa so viel wie die nahegelegene Stadt Innsbruck mit ihren 130.000 Einwohnern. Die damit verbundenen Kosten seien nur noch mit Mühe zu stemmen, sagt Kocher. "Wenn wir nicht zu einem großen Konzern gehören würden, und das wäre jetzt eine Einzelunternehmung, dann würde ich mich mit dem Thema Insolvenz auseinandersetzen."

Appell an die Politik

Kocher weiß, dass die Pharmaindustrie mit patentgeschützten Arzneien zum Teil immer noch sehr viel Geld verdient. Aber bei den Präparaten, auf die sein Unternehmen Sandoz spezialisiert ist, sehe das inzwischen anders aus: Bei patentfreien Präparaten, den Generika, sei der Preisdruck durch Sparmaßnahmen in vielen öffentlichen Gesundheitssystemen enorm.

Das sieht auch Thomas Weigold so, er ist Vorstand bei Hexal, der hierzulande bekanntesten Sparte der Sandoz-Gruppe. In der Sandoz-/Hexal-Zentrale in Holzkirchen südlich von München laufe die Arbeit am Anschlag, sagt er, ebenso wie an anderen Standorten: Etwa in Barleben in Sachsen-Anhalt, wo Hexal das Krebsmedikament Tamoxifen herstellt. Doch wenn die Nachfrage höher ist als die Produktion, stelle sich für das Unternehmen eine zentrale Frage: "Wer kommt zuerst, wohin wird geliefert?"

Weil hierzulande die Preise durch Sparinstrumente wie Festbeträge und Rabattverträge seit vielen Jahren nach unten gedrückt werden, falle die Entscheidung vieler Unternehmenszentralen nicht zugunsten des deutschen Marktes aus: "Da fällt natürlich Deutschland mittlerweile schon sehr, sehr stark hinten runter durch die Preisgestaltung, die es hier gibt."

Warnung vor Abhängigkeiten

Nicht nur Industrievertreter warnen davor, dass die Abhängigkeit von Medikamenten-Lieferungen aus Asien für westliche Staaten zum Problem werden könnte. Die Pharmazie-Professorin Ulrike Holzgrebe von der Uni Würzburg sorgte schon vor einigen Jahren mit der Aussage für Aufsehen, China brauche keine Atombombe, um Europa vernichtend zu treffen. Es müsse nur seine Antibiotika-Lieferungen einstellen. Dann würden massenhaft Menschen sterben. Daran habe sich bislang nichts Grundsätzliches geändert, sagt Holzgrebe, auch wenn es inzwischen von der Europäischen Union und einzelnen EU-Mitgliedsstaaten die Ankündigung gibt, Arznei-Produktion nach Europa zurückzuholen.

Langer Atem gefragt

Der Hexal-Vorstand Thomas Weigold sieht es immerhin positiv, dass Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) die Liefersicherheit bei Medikamenten stärken will, auch durch eine Neugestaltung der Preise. "Das ist schon mal sehr, sehr gut", findet Weigold. Die Pläne, die derzeit diskutiert werden, deckten aber nur einen kleinen Bruchteil des Arzneimittelmarktes ab, kritisiert er.

Wenn aber die Weichen richtig gestellt würden, sei es möglich, die Arzneiproduktion in Europa wieder spürbar zu stärken, ist Weigold überzeugt. Allerdings dürfe man nicht erwarten, dass das schnell geht: "Man könnte dann in den nächsten fünf Jahren sehen, wie das anfängt wirklich zu ziehen."

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