Auf dem Bild sieht man einen Bäcker.
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Ohne Zuwanderung können wir den Fachkräftemangel nicht ausgleichen, sind sich Arbeitsmarktexperten einig.

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Können Menschen mit Duldung den Fachkräftemangel lindern?

Ohne Zuwanderung können wir den Fachkräftemangel nicht ausgleichen, sagen Arbeitsmarktexperten. Gleichzeitig gibt es viele Menschen in Deutschland, die arbeiten wollen, aber nicht dürfen. Könnten sie helfen, den Fachkräftemangel zu lindern?

Vier Anläufe hat Umar aus Sierra Leone schon gestartet: Er beantragte eine Erlaubnis für eine Ausbildung zur Pflegekraft, doch wurde abgelehnt. Auch die Ausbildung zum Anlagenmechaniker: abgelehnt. Weitere zwei Male versuchte er eine Erlaubnis für Ausbildung zum Bäcker zu bekommen, doch wieder wurde er abgelehnt.

Umar lebt bereits seit sechs Jahren in Deutschland, hat hier seinen Mittelschulabschluss gemacht und will unbedingt eine Ausbildung anfangen und arbeiten. Zwei Zusagen von Münchner Bäckereien hatte er schon. "Die ganze Zeit haben sie mich angerufen: Wann bekommst du die Erlaubnis? Wann kommt die Erlaubnis?", erzählt er.

Ohne Identitätsnachweis keine Arbeitserlaubnis

Doch der 27-jährige Umar wird enttäuscht. Die Ausländerbehörde erteilt ihm keine Erlaubnis, eine Ausbildung zu machen. Grund dafür ist, dass er in Deutschland nur geduldet ist. Das bedeutet, sein Antrag auf Asyl wurde bereits abgelehnt, doch er kann nicht ausgewiesen werden, denn: Umar hat keinen Pass und kann seine Identität nicht nachweisen. Ohne Identitätsnachweis bekommt er aber von der Ausländerbehörde wiederum keine Ausbildungs- oder Arbeitserlaubnis. Ein Teufelskreis also.

"In sechs Jahren in Deutschland hatte ich nicht ein Tag die Gelegenheit zu arbeiten", beklagt sich Umar. So wie Umar geht es vielen Geduldeten in Deutschland. Von 250.000 Menschen mit Duldung geht laut Bundesagentur für Arbeit nur etwa jeder zehnte einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung nach, weitere 22.500 Menschen befanden sich in einer Ausbildung, soweit die Zahlen aus dem Juni 2022. Aktuelle Statistiken dazu gibt es nicht.

Forderung: Nettoeinwanderung von bis zu 500.000 Menschen

Nur etwa jeder zehnte Geduldete arbeitet – wie passt das zusammen mit der hohen Nachfrage nach Arbeitskräften? Fast zwei Millionen Stellen sind momentan unbesetzt. Experten wie Professor Herbert Brücker vom Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung fordern deshalb eine Nettozuwanderung von jährlich 400.000 bis 500.000 Menschen aus dem Ausland. Nur so könne das Erwerbspersonenpotenzial konstant gehalten werden.

Zahl der Geduldeten würde das Problem nicht verändern

Um dem demografischen Wandel zu begegnen, bräuchte es sogar eine noch sehr viel höhere Netto-Einwanderung. Die Idee, diese Lücke mit Menschen aus dem Inland zu füllen, liegt also nahe. Der Arbeitsmarktexperte Brücker macht jedoch deutlich: Auch bei optimistischen Annahmen würde man damit nicht einmal näherungsweise herankommen. "Auch wenn auf einmal alle Arbeitslosen beschäftigt würden oder alle Geduldeten, würde es das Problem praktisch nicht verändern", betont Brücker. Von 250.000 Geduldeten in Deutschland sind knapp 75 Prozent im erwerbsfähigen Alter. "Wir reden also über ein maximales Potenzial von 190.000 Menschen", rechnet er vor.

Arbeitsmarktexperte: Bessere Integration auf dem Arbeitsmarkt

Trotzdem plädiert Brücker dafür, diese Personengruppe besser in den deutschen Arbeitsmarkt zu integrieren – auch weil in der momentanen Debatte eines oft nicht kommuniziert wird: Deutschland hat nicht nur einen hohen Bedarf an Fachkräften, sondern braucht auch insgesamt mehr Arbeitskräfte. Wenn man es allen Menschen ermögliche zu arbeiten, helfe man nicht nur den Betroffen, um die es zuallererst gehe. "Es hilft den Arbeitgebern, aber es hilft auch dem Staat, weil er viel weniger Geld ausgeben muss, um diese Menschen zu unterhalten."

Unternehmen sehen großes Potenzial in Geduldeten

Professor Brücker ist mit dieser Meinung nicht alleine. Angesicht des Fachkräftemangels sieht auch die Industrie und Handelskammer Bayern ein großes Potenzial in Geduldeten, meint Elfriede Kerschl von der IHK, Leiterin des Referats für Fachkräfte, Weiterbildung und Frauen in der Wirtschaft. Sie meint: "Es ist auch deswegen interessant, auf diese Personengruppe zu schauen, weil diese Menschen ja sehr häufig mit dem Vorsatz hergekommen sind, hier längerfristig zu leben und zu arbeiten." Dies sei natürlich auch für Unternehmen von großem Interesse, so Kerschl. Sie betont: Unternehmen seien auch durchaus bereit, in die Ausbildung von Menschen mit Duldung zu investieren.

Chancenaufenthaltsgesetz soll Erleichterungen schaffen

Die Bundesregierung hat bereits Erleichterungen für Menschen mit Duldung beschlossen. Im gerade in Kraft getretenen Chancen-Aufenthaltsgesetz wurde geregelt, dass langjährig Geduldete, die gut integriert sind und arbeiten dürfen, ein dauerhaftes Bleiberecht bekommen können. Menschen wie Umar profitieren nicht davon, weil seine Identität nicht geklärt ist.

Bundesregierung trennt strikt zwischen Asyl und Arbeitsmigration

Für das Bundesinnenministerium ist der aktuelle Fachkräftemangel allerdings kein Argument, etwas in der aktuellen Asylpolitik zu verändern. Es trennt strikt zwischen Asylrecht und Arbeitsmigration. Auf Anfrage teilt ein Sprecher mit: "Es würde dem humanitären Anliegen des Asylrechts widersprechen, es mit Nützlichkeitsargumenten wie einem Fachkräftemangel zu verbinden."

Im Koalitionsvertrag setzt sich die Ampel-Regierung allerdings das Ziel, Beschäftigungsverbote abzuschaffen. Doch auf Nachfrage teilt das Bundesinnenministerium mit, es gebe derzeit keinen Gesetzentwurf dazu.

Bayerischer Flüchtlingsrat sieht durch aktuelle Politik verschenktes Potenzial

Stephan Dünnwald vom Bayerischen Flüchtlingsrat kann die Haltung der Bundesregierung nicht nachvollziehen. Er ist der Meinung: "Das führt dazu, dass Leute mit Potenzial, mit Qualifikation und auch mit Ehrgeiz in Bayern nur rumsitzen und nicht arbeiten oder keine Ausbildung machen dürfen. Und das ist ein verschenktes Potenzial."

Für den 27-jährigen Umar ist sicher, er möchte in Deutschland arbeiten, sein eigenes Geld verdienen und unter Menschen sein. Er wünscht sich für Menschen mit Duldung: "Die Gelegenheit, dass sie auch an der Gesellschaft teilnehmen können."

Der junge Mann aus Sierra Leone gibt nicht auf. Unterstützt durch den Bayerischen Flüchtlingsrat wird sein Fall bald vor der Härtefallkommission des Bayerischen Innenministeriums verhandelt. Vielleicht diesmal mit positiven Ausgang.

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