Protest gegen Massenentlassungen bei MAN in Nürnberg
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Protest gegen Massenentlassungen bei MAN in Nürnberg

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Deindustrialisierung: So ist die Lage in Deutschland und Bayern

Verarbeitendes Gewerbe und industrienahe Dienstleistungen prägen Deutschland und speziell Bayerns Wirtschaft. Doch der Industrieanteil schrumpft in Teilbereichen. Wie viel Deindustrialisierung hält der Standort aus? Eine Risikoanalyse.

Über dieses Thema berichtet: BR24 am .

"Rettet unsere Industrie", nennt sich eine Initiative von Fachleuten aus Wirtschaft, Wissenschaft und Politik, die auf die negativen Folgen fortschreitender Deindustrialisierung aufmerksam machen will. Teure Energie, Fachkräftemangel, Bürokratie, dazu industriefeindliche Aktionen, ein sich ankündigender Subventionswettlauf mit den USA und eine Art Kriegswirtschaft als drohende Folge des Russland-Ukraine-Konflikts: Weil all das zusammenkommt, so die These, kann aus einer ohnehin prognostizierten langen Schwächephase schlimmstenfalls ein Totalzusammenbruch der deutschen Wirtschaft folgen, den es zu verhindern gilt.

Besondere Beachtung fand bereits im vergangenen Jahr die ernste Warnung des Chemiegiganten BASF, bei kriegsbedingtem Erdgasmangel die Produktion einstellen zu müssen. Denn Erdgas-Abfallprodukte werden von der BASF unter anderem zur Ammoniakproduktion genutzt, ohne die weder Landwirtschaft noch Verkehr in Europa funktionieren. Auf der Bilanzpressekonferenz verkündete das Unternehmen die teilweise Stilllegung der Ammoniakproduktion sowie den Wegfall von rund 1.700 Stellen in Deutschland.

Deindustrialisierung: Schreckgespenst oder reale Gefahr ?

Spätestens damit nimmt der Meinungsstreit im öffentlichen Raum Fahrt auf. Das Spektrum publizierter Stellungnahmen reicht von "Schreckgespenst" (DIW-Chef Marcel Fratzscher) bis zu "existenzbedrohend" (DGB-Chefin Yasmin Fahimi).

Einerlei ob man die Debatte für aufgebauscht oder bitterernst hält, darüber sind sich alle einig: Ob wir in Deutschland eine Deindustrialisierung erleben, inwieweit das überhaupt bedrohlich ist und wie damit umgegangen werden soll, ist eine Frage, die nicht länger ignoriert werden kann und ergebnisorientiert beantwortet werden muss.

Industrie = Wertschöpfung = Beitrag zum Wohlstand

Relative Einigkeit herrscht noch, wenn es um die Notwendigkeit einer starken industriellen Basis für künftigen Wohlstand in Deutschland geht. Nicht zuletzt auch, um den im internationalen Vergleich relativ üppigen Sozialstaat finanzieren zu können. Selbst DIW-Chef Fratzscher, der überhaupt keine kurzfristigen Anzeichen für eine Deindustrialisierung erkennen kann, hält sie jedenfalls langfristig für "eine reale Gefahr". Dies liegt an der unangefochten hohen Produktivität des verarbeitenden Gewerbes, die weit über dem Durchschnitt aller Sektoren der deutschen Volkswirtschaft liegt, wie (unter vielen anderen) eine Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft belegt.

Dabei besteht ein Zusammenhang zwischen hoher Produktivität, Wohlstand und Wettbewerbsfähigkeit einer Volkswirtschaft. Im Umkehrschluss bedeutet das, "es wäre sehr riskant, sich nur auf eine Dienstleistungswirtschaft zu verlassen, denn Dienstleistungen kommen an die hohe Wertschöpfung der Industrie beobachtbar nicht heran", kommentiert Projektleiterin Dr.Claudia Schärer den Stand der Forschung aus Schweizer Sicht.

Fakt ist aber auch, dass ein hoch entwickelter Industriesektor produktive Unternehmensdienstleistungen nach sich zieht und damit starke Ausstrahlungswirkungen haben kann, schreibt ifo Industrieökonom Oliver Falck und nennt ein Beispiel: "Ich habe vor der Corona-Pandemie EOS, den 3D-Drucker-Hersteller bei München, besucht. An dem Standort werden hunderte von Ingenieuren beschäftigt, die potenziellen Kunden näher bringen, was man alles mit 3D-Druckern machen kann oder mit Kunden gemeinsam Prototypen entwickeln. Aber: Es wird kein einziger 3D-Drucker dort produziert. Das erfolgt im Ausland. Ist das nun noch ein Industrieunternehmen oder ein Dienstleister?"

Unbestritten bleibt: Hohe Wertschöpfung pro Arbeitsplatz bedeutet hohe Kaufkraft, hohes Steueraufkommen und damit die Fähigkeit zur Finanzierung eines selbstbestimmten Lebens der Bürger und der Daseinsvorsorge des Staates. Die Deutschen haben damit zwei gegensätzliche Erfahrungen gemacht. Die Weimarer Republik scheiterte auch an den Deindustrialisierungsfolgen des Ersten Weltkrieges, die Bundesrepublik erlebte ab 1950 mit dem Wirtschaftswunder das Gegenteil, was etwa am Fallbeispiel des VW-Käfers deutlich wurde. Solche prägenden historischen Erfahrungen dürften auch zum Teil die spürbare Emotionalität erklären, wenn in Deutschland über den Stellenwert der Industrie diskutiert wird.

Strukturwandel, Transformation oder Deindustrialisierung ?

Wer dabei mitreden möchte, muss bei der Begriffswahl präzise sein. Ausdrücklich keine Deindustrialisierung ist der Strukturwandel von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft, der sich bereits seit Jahrzehnten vollzieht, auch innerhalb des verarbeitenden Gewerbes selbst. "Die inländischen Standorte der deutschen Industrieunternehmen entwickeln sich mehr und mehr zu Zentren der Unternehmensführung und Forschung und Entwicklung, wohingegen die eigentliche Produktion vermehrt im Ausland stattfindet", urteilt der Münchner Industrieökonom Oliver Falck. Weil Strukturwandel mit Gewinnen und Verlusten an Wertschöpfung und Jobs einhergeht, wird auch von einer "Transformation" des Industriesektors gesprochen, die durchaus auch die Chance zu einer "Re-Industrialisierung" auf moderner digitaler und ökologischer Basis bedeuten könnte.

Deindustrialisierung liegt hingegen vor, wenn die Wertschöpfung im verarbeitenden Gewerbe sinkt und deshalb die Zahl der Industriejobs zurückgeht, so eine allgemein anerkannte Definition der Schweizerischen Akademie der technischen Wissenschaften, die fortlaufende Studien zum Thema veröffentlicht. Weniger Wertschöpfung und weniger Beschäftigung: Beides muss also über einen längeren Zeitraum vorliegen, um von Deindustrialisierung zu sprechen. Als europäisches Paradebeispiel gilt Frankreich, dessen Volkswirtschaft nach der Jahrtausendwende in "einen Teufelskreis aus mangelnder Wettbewerbsfähigkeit, schrumpfenden Margen und geschwächter Innovationsfähigkeit geriet", urteilt eine wissenschaftliche Studie der eidgenössischen Finanzverwaltung.

Uneinheitliches Bild der deutschen Industrie

Für Deutschland ergibt sich hingegen kein einheitliches Bild. Während in den vergangenen zehn Jahren im Pharmabereich viele Jobs geschaffen wurden, sanken sie in der Metallindustrie deutlich. Die Bruttowertschöpfung der Industrie blieb – außer bei einem starken Einbruch während der Finanzkrise 2009 – relativ stabil und bewegt sich konstant bei 18 bis 20 Prozent Anteil an der Gesamtleistung der deutschen Volkswirtschaft.

Das ist im Vergleich zu anderen Industrienationen wie USA, Frankreich oder Großbritannien ein Spitzenwert, bedeutet aber auch eine besonders hohe Anfälligkeit zum Beispiel durch Energiepreisschocks, wie wir sie gerade erleiden. Bisher waren deutsche Unternehmen anpassungsfähig, wie sich in der Coronakrise gezeigt hat. Doch "Deindustrialisierung ist in der Chemischen Industrie und der Metallerzeugung bereits geschehen", schreibt Professor Christoph Schmidt, Präsident des Leibniz-Instituts für Wirtschaftsforschung und warnt: "Im Erfolg liegt immer auch der Keim des Niedergangs, dem man aktiv entgegenwirken muss".

Vorsicht auch bei Kurzfristbetrachtungen

Der Eindruck von Deindustrialisierung entsteht zwangsläufig beim Blick auf das aktuelle Kriegsgeschehen in der Ukraine und die in der Folge stark gestiegenen Energiepreise. Der Bundesverband der deutschen Industrie (BDI) sieht Deutschlands Geschäftsmodell unter "enormem Stress". Der deutsche Industrie-und Handelskammertag meldet die USA als beliebtes Abwanderungsziel wegen vergleichsweise niedrigerer Energiepreise.

"Osteuropa, das neue China der deutschen Industrie" titelt die Wirtschaftswoche vom 30.9.2022. "Die bayerische Wirtschaft bewegt sich auf dünnem Eis" kommentiert Manfred Gößl, Hauptgeschäftsführer der Bayerischen Industrie-und Handelskammern die Ergebnisse der BIHK-Konjunkturumfrage vom Januar 2023. Demnach planen besonders energieintensive Unternehmen die Verlagerung ins Ausland, allen voran rund jedes fünfte aus der Kunststoff- und Chemieindustrie.

Dabei scheint besonders der industriestarke süddeutsche Raum von Horrormeldungen über Jobverluste betroffen: MAN Nürnberg-München minus 1.500 , Siemens-Ruhstorf: minus 2.330, Liebherr Friedrichshafen minus 360, ZF Friedrichshafen: minus 7.500, Mahle Stuttgart: minus 1.800, Bosch Stuttgart: minus 2.500.

Gleichzeitig Stellenabbau und neue Jobs

Doch das Lagebild ist alles andere als klar, denn gleichzeitig entstehen im Nord- und Ostdeutschland wieder Tausende von Arbeitsplätzen. Northvolt in Heide (plus 3.000), Volkswagen Salzgitter (plus 2.500), Intel Magdeburg (plus 10.000) oder BOSCH in Dresden (plus 700) sind prominente Gegenbeispiele. Dazu passt auch die Septemberumfrage des Bundesverbandes der deutschen Industrie. Knapp die Hälfte der deutschen Industrieunternehmen plant demnach Investitionen nur in Deutschland, was nach Ansicht von ifo-Industrieökonom Falck zeigt, dass sich die deutsche Industrie bereits mit hohen Energiepreisen arrangiert hat, indem sie diversifiziert, verlagert, energieintensive Vorprodukte importiert oder in energieeffizientere Technik investiert.

Wann wird Deindustrialisierung schädlich ?

Es kommt darauf an, ob und wie die Industrie aus einer Rezession herauskommt. Beim Blick in die Wirtschaftsgeschichte zeigt sich, dass die deutsche Industrie bisher anpassungsfähig war, etwa bei Einbrüchen im Welthandel oder beim Konsum.

Ob dies angesichts der Dimension und Kurzfristigkeit der pandemie-und kriegsbedingten Lasten diesmal auch gilt, ist fraglich. Schrumpft der industrielle Kapitalstock der Volkswirtschaft ohne neue, angepasste Wertschöpfung, dann wirkt das wohlstandsvernichtend. Michael Hüther vom Institut der deutschen Wirtschaft spricht von einem "Umkipp-Punkt".

Schädliche Deindustrialisierung beginnt dabei mit dem erzwungenen Schrumpfen der energieintensiven Grundstoffproduktion, strahlt über Lieferketten und Preisschocks in andere Sektoren aus, führt zu einer Insolvenzwelle und Massenarbeitslosigkeit. Ob der Industriestandort Deutschland das über sich ergehen lassen muss oder die Kraft zur aktiven Transformation findet, entscheidet sich gegenwärtig.

Was tun gegen schädliche Deindustrialisierung ?

Was kann ökonomischer Sachverstand der Politik hier raten? Professor Christoph Schmidt, ehemaliger Wirtschaftsweiser, formuliert den Pfad aus wirtschaftswissenschaftlicher Sicht: "Bei dieser Ausgangslage brauchen wir ein deutliches Bekenntnis ALLER Akteure. Also nicht nur der Unternehmen, für die das selbstverständlich ist, sondern auch der Politik und Gesellschaft zu wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit. Die oberste Priorität politischen Handlens sollte darauf liegen, die Attraktivität des Standortes für unternehmerisches Handeln zu steigern, denn nur was erwirtschaftet wird, kann man dann auch umverteilen". Schmidt wendet sich in diesem Zusammenhang gegen einen Subventionswettlauf mit USA und China und empfiehlt stattdessen die Sicherung der Fachkräftebasis, effiziente digitale Verwaltung, leistungsfähige Infrastruktur und international wettbewerbsfähige Unternehmenssteuern. Sein Fazit: "Möglich ist das allemal, man muß es nur wollen".

Der Staat kann mit wirtschafts-und steuerpolitischen Maßnahmen versuchen, gegenzusteuern. Wie bei jeder Subvention müssen die Hilfen jedoch zielgenau sein und Trittbrettfahrer ausgeschlossen werden. Das bayerische Wirtschaftsministerium nimmt für sich in Anspruch, hierbei entlang der gesamten Wertschöpfungskette für attraktive Rahmenbedingungen am Standort Bayern zu sorgen. Dies soll geschehen durch eine Hightech Agenda (Plus), die mit rund 3,5 Milliarden Euro unter anderem die additive Fertigung, neue Antriebstechnologien, Künstliche Intelligenz und 6G fördert.

Hinzu kommt eine Bioökonomie-Strategie mit 50 konkreten Maßnahmen, ein Transformationsfonds Bayern für mittelständische Unternehmen und der Aufbau einer Wasserstoffinfrastruktur. Dies auch vor dem Hintergrund historischer Höchststände bei den Energiepreisen, wie der aktuelle Energiepreisindex der Vereinigung der bayerischen Wirtschaft zeigt. Bezahlbare und sichere Energie hat in Bayern Priorität angesichts der besonderen Abhängigkeit von russischem Erdgas und dem Versorgungsengpass des Speichers Haidach in Österreich, der Bayern zu großen Teilen versorgt.

Fachkräftemangel größeres Risiko als Energiekosten ?

Weil in Deutschland und Bayern viele mittelständisch geprägte Weltmarktführer sitzen, könnte auch der Fachkräftemangel zu einer schädlichen Deindustrialisierung führen. Denn diese Unternehmen "ziehen nicht mal eben um, weil die Energiekosten für eine Weile deutlich höher sind", so der Präsident des Maschinenbauverbandes VDMA Karl Haeusgen im "Tagesspiegel". Unternehmerpersönlichkeiten, das lokale Netzwerk und die Bindung der Mitarbeiter nennt Haeusgen als wichtigsten Standortvorteil dieser "Hidden Champions". Mit Blick auf deren Bedürfnisse hat die Bayerische Staatsregierung in Kooperation mit der Vereinigung der bayerischen Wirtschaft (vbw) die Initiative Fachkräftesicherung+ initiiert.

Fazit: Deindustrialisierung erfolgt, Reindustrialisierung aber auch

Deindustrialisierung ist angesichts eines ganzen Bündels von Schocks von einer Drohkulisse zu einer echten Bedrohung geworden, urteilt der Ökonom Michael Hüther. Gleichwohl spricht die Datenlage noch nicht für eine Deindustrialisierung auf breiter Front, sondern sie passiert branchenspezifisch und regional unterschiedlich.

Schwindende Wertschöpfung und Jobverluste können aber langfristig drohen, wenn keine Reindustrialisierung in Zukunftsfeldern stattfindet. Der Staat kann dies zielgenau fördern, die Unternehmen müssen die Anreize aufnehmen. Aber selbst, wenn sie Standorte verlagern, reicht dies allein jedenfalls nicht, um von Deindustrialisierung zu sprechen. Standortflucht ist aber als Alarmzeichen sehr ernst zu nehmen, weil die rohstoffarme deutsche Volkswirtschaft auf hochproduktives verarbeitendes Gewerbe weiterhin angewiesen ist.

  • Zum Artikel: Siemens erhofft Wachstum in USA

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