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Erfahrungsbericht aus Budapest Zwei Wochen Ausnahmezustand

Eigentlich war es nur eine Urlaubsvertretung- doch plötzlich war er mittendrin: Tim Heller, Moderator und Redakteur in der Programmredaktion B5 aktuell und Nachrichten, hat zwei Wochen lang über die Flüchtlingskrise berichtet – zunächst aus dem ARD-Studio Wien, später dann live aus Budapest und Bicske. Hier schildert er seine Eindrücke.

Von: Tim Heller, B5 aktuell und Nachrichten

Stand: 10.09.2015 | Archiv

Flüchtlinge protestieren am Bahnhof in Budapest | Bild: picture-alliance/dpa

Dass Korrespondenten-Vertretungen stressig werden können, weiß ich. Acht solcher Einsätze habe ich den vergangenen Jahren absolviert, sechs davon im ARD-Studio Südosteuropa in Wien. Immer wieder gab es unvorhersehbare Ereignisse, aber gerade diese Nicht-Planbarkeit des Geschehens ist es ja, die das Journalistenleben so spannend macht.

Als ich im August wieder einmal ins Studio reise, ist klar, dass uns die Westbalkan-Konferenz in Wien ordentlich auf Trab halten wird. Merkel und Steinmeier, dazu diverse Staats- und Regierungschefs und Minister der Nachfolgestaaten Jugoslawiens in der Hofburg. Angesichts der Flüchtlingskrise, die ja diese Region als Ursprungs- und Transitregion gleich doppelt betrifft, ist schon im Vorfeld großes Interesse innerhalb der ARD spürbar. Eine Herausforderung für Karla Engelhard und mich als einzige Korrespondenten, aber eben eine plan- und machbare, so denken wir.

Das Telefon steht nicht mehr still

Der Lkw mit den toten Flüchtlingen.

Wie groß die Herausforderung tatsächlich werden soll, zeigt sich am Mittag des Gipfeltages. Ich bin gerade von der Pressekonferenz der Außenminister ins Studio zurückgekommen und habe eine Nachrichtenminute abgesetzt, als über die österreichische Agentur APA die Eilmeldung kommt: Auf der Ostautobahn zwischen der ungarischen Grenze und Wien hat die Polizei einen Lkw voller toter Flüchtlinge entdeckt.

Während ich den ersten Kurzbeitrag für die ARD ankündige und schreibe, herrscht im Studio einige Minuten lang die buchstäbliche Ruhe vor dem Sturm. Dann, als meine Ankündigung und die ersten Meldungen über die deutschen Agenturen laufen, steht unser Telefon nicht mehr still – und soll es auch für viele Tage nicht mehr.

Karla Engelhard und ich stürzen uns in ungezählte Nachrichtenminuten, lange Beiträge, Live-Gespräche. Die Moderatorin eines ostdeutschen Jugendsenders will partout on air über die Verwesungsflüssigkeit sprechen, die aus dem Lkw gelaufen sein soll – ein Ansinnen, das ich zum Glück noch unterbinden kann. Nicht der einzige Wahnsinn an diesem und den folgenden Tagen, die von weiteren Ermittlungsergebnissen, ersten Festnahmen und viel Berichterstattung geprägt sein werden.

Zwei Stunden Schlaf

Bahnhofsrestaurant und Hotel werden zum Arbeitszimmer.

Das Wochenende verbringe ich durchgehend in meinem Hotelzimmer, das als improvisiertes Studio für laufende Updates und Gesprächswünsche der ARD-Sender herhalten muss. Die Zahl der Stunden nächtlichen Schlafes geht zwischenzeitlich auf vier zurück, später wird sie auf zwei sinken, aber das ahne ich noch nicht.

Zu diesem Zeitpunkt ist schon klar, dass die angepeilte einwöchige Vertretung angesichts der knappen personellen Ressourcen des Studios nicht reichen wird. Auf dem kleinen Dienstweg wird daher eine Verlängerung auf zwei Wochen beschlossen.

Dass dies dringend nötig ist, erfahren wir bald darauf: Kaum ist das ganz große ARD-Interesse an der Berichterstattung über das Lkw-Drama etwas zurückgegangen, da spitzt sich die Lage in Ungarn zu.

Keleti: unglaubliche Bilder mitten in Europa

Der telefonische Hilferuf aus Wien erreicht mich auf einer Autobahn mitten in Serbien. Mit unserem dortigen lokalen Mitarbeiter bin ich eigentlich auf dem Weg von Belgrad an die serbisch-ungarische Grenze, um über die Situation am Grenzzaun zu berichten. Stattdessen geht es für mich nun direkt weiter nach Budapest, an den Keleti-Bahnhof, in dessen Umfeld tausende Flüchtlinge auf eine Weiterreise Richtung Österreich und Deutschland warten. Im Bahnhofsrestaurant gibt es WLAN, und so kann ich von dort aus in die erste Runde Live-Gespräche starten.

Flüchtlinge warten am Keleti-Bahnhof in Budapest.

Was ich in der Stunde zwischen meiner Ankunft und dem Beginn dieses Gesprächsfensters sehe, ist nicht leicht zu verarbeiten: Tausende Menschen, die auf dünnen Matten, Zeitungen oder dem blanken Boden lagern, eine erschreckend große Zahl von Kindern jeden Alters, die buchstäblich im Dreck spielen, dazu unfassbare sanitäre Umstände: nur eine Handvoll mobiler Toiletten, ein einzelner Hydrant, an dem sich die Menschen etwas Abkühlung von der sengenden Hitze verschaffen können.

Der Bahnhof selbst: abgesperrt von Polizisten, die nach Hautfarbe entscheiden – nur wer hell genug ist, um nicht als Flüchtling verdächtig zu sein, darf ins Innere des Gebäudes. Und das alles nicht in einem fernen Krisenstaat, sondern mitten in Europa, in der Hauptstadt eines EU-Landes, nur eine Flugstunde von München entfernt.

Tränen und Wut sind keine gute Arbeitsgrundlage

In Budapest erlebe ich wie selten zuvor, wie untrennbar der Journalist und der Mensch in einem doch sind. Der professionelle Panzer, den man sich im Nachrichtengeschäft schon aus Selbstschutz zulegt, bekommt angesichts des tausendfachen Elends Löcher. Doch Tränen in den Augen und Wut im Bauch sind sicherlich keine gute Arbeitsgrundlage für einen Korrespondenten.

Tim Heller

Hilfreich ist, dass ich neben Nachrichtenminuten und langen Beiträgen für die Früh den Fokus auf Live-Talks legen kann. Jeden Tag stehen zwischen 30 und 40 dieser Gespräche an, in denen ich schildere, was ich sehe: das Leid der Menschen um mich herum und die fast völlige Abwesenheit von organisierter, professioneller Hilfe. Natürlich dreht sich die Berichterstattung auch um den Streit zwischen ungarischer und deutscher Regierung, um das Dublin-Abkommen und die EU-Uneinigkeit. Wichtig ist mir aber, dass es hier jenseits der politischen Ebene, auf der sicherlich jeder seine eigene Meinung und Überzeugung hat, um eine ganz konkrete humanitäre Notsituation geht.

"No camp, no Hungary"

Tim Heller berichtet von den Geschehnissen im Zug.

Zugespitzt zeigt sich das zwei Tage später, als ich unter der brennenden Sonne auf dem Bahnsteig des kleinen Provinzortes Bicske sitze, etwa 40 Kilometer von Budapest entfernt. Zehn Meter entfernt von mir steht der Zug, der am Vortag den Keleti-Bahnhof vermeintlich in Richtung Österreich verlassen hat, dann aber hier gestoppt wurde, um die Flüchtlinge in ein Lager zu bringen.

Vor ihm, nur durch einen Zaun und zwei Gleise von mir getrennt, blicke ich in die Gesichter der Menschen, die noch 24 Stunden zuvor die Ausfahrt ihres Zuges bejubelt und beklatscht haben.

"No camp, no Hungary", so steht es jetzt mit Rasierschaum auf einen der Waggons gesprüht. Die verzweifelten Rufe und Sprechchöre der Flüchtlinge bilden den Hintergrund der Live-Gespräche, die ich mit Laptop, Headset, Skype und LTE-Stick für die verschiedenen ARD-Sender führe.

Treck von tausenden Flüchtlingen

Im Laufe des Nachmittags verschärft sich die Lage dann weiter, als die Behörden plötzlich einen Güterzug einrollen lassen, der uns Journalisten den Blick auf die Ereignisse nehmen soll. Einige hundert Menschen versuchen die Flucht entlang der Bahngleise Richtung Westen, ein Flüchtling kollabiert und stirbt, Spezialkräfte der Polizei in Kampfmontur führen schließlich die Übriggebliebenen in Busse ab. Über all das berichte ich live im ARD-Hörfunk und parallel auf Twitter, mit Unterstützung vor Ort von unserem Stringer Attila Poth und aus Wien vom famosen Studio-Team, namentlich Andrea Fellner-Mohr, Karin Straka und Jan Heier.

Flüchtlinge auf der Autobahn

Auf der Rückfahrt nach Budapest dann die nächsten unglaublichen Bilder: Auf der Autobahn kommt uns der Treck der tausenden Flüchtlinge entgegen, die vom Keleti-Bahnhof zu Fuß Richtung Österreich unterwegs sind. Später in der Nacht werden sie von Bussen aufgesammelt und zur Grenze gebracht.

Flüchtlinge kommen am Hauptbahnhof in München an.

Am folgenden Tag sehe ich, wie diese Menschen in Österreich und Bayern mit Applaus empfangen und von Freiwilligen versorgt werden. Budapest und Biczske, Wien und München – gegensätzlicher könnten die Bilder wohl kaum sein. Am Ende meiner Vertretungszeit gibt es also doch noch das, was wir Journalisten nicht allzu oft erleben dürfen: ein kleines Happy-End – wenn auch nur für den Moment.


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