Stefan Kuntz ist Nationaltrainer der Türkei und muss nach dem verheerenden Erdbeben irgendwie zur Normalität zurückfinden. Als Kenner des deutschen Fußballs hat er aber auch eine Meinung zur Zukunft des DFB und der Nationalmannschaft. In "Heute im Stadion" beantwortete er die Fragen von Philipp Eger.
Frage: Ein paar Wochen nach dem furchtbaren Erdbeben in der Türkei mit fast 50.000 Toten. Ist da überhaupt schon wieder an Fußball zu denken?
Starker Wille in der Türkei zu spüren
Stefan Kuntz: Ja, es ist so. Dieser Wille "es muss weitergehen irgendwo", der ist jetzt stark zu spüren. Wenn man so nah dabei war - zu dem Zeitpunkt des Unglücks war ich ja selbst in Istanbul - und die kriegst die ersten Tage mit: Das können wir uns nicht vorstellen. Das liegt außerhalb unserer Vorstellungskraft.
Frage: Viele in Deutschland haben ihre Wurzeln in der Türkei. Es gibt viel Spendenbereitschaft. Wie versuchen Sie zu helfen?
Kuntz: Ich habe zwei Tage danach bei einem Supermarkt in Neunkirchen (Kuntz' Heimatort, d. Red.) an der Kasse gesessen. Der Inhaber ist Türke. Wir haben gesagt, wir machen was zusammen. Alles, was in dieser Stunde über das Kassenband lief, wurde gespendet. Da ging es um Räumungsfahrzeuge und Wohncontainer. Jetzt muss man gucken, dass man die sanitären Anlagen hinbekommt. Da kam jetzt auch noch in einem Teil des Erdbebengebietes auch noch eine Überflutung mit dazu. Das ist wirklich ein Schicksal.
"Türkei möchte stärker aus diesem Schicksalsschlag hervorgehen"
Frage: Was können Sie als Trainer der türkischen Nationalmannschaft auch Positives tun? Ist Fußball vielleicht auch genau das Richtige, was in so einer Krisensituation verbinden kann?
Kuntz: Ein großes Thema sind die großen Spannungen zwischen Armenien und der Türkei. Und die Frage: Wie ist bei jedem Spieler dieses Erdbeben noch im Hinterkopf? Ist er betroffen, fühlt er sich schlecht, weil er nicht helfen kann? Ist man schon so eingestellt, dass man den Leuten wieder Hoffnung geben kann, indem man halt wieder in Freude macht durch Siege? Und in der Mitte unseres Camps geht auch wieder der Ramadan los. Ich habe da viele Leute gefragt und Trainerkollegen besucht, um mehr darüber zu erfahren. Generell ist es schon so: Es ist jetzt die Chance - und das hat die Türkei so in sich - es ist ein großer Schicksalsschlag, aber sie möchten auch stärker aus diesem Schicksalsschlag hervorgehen. Diese Identifikation mit der Fahne ist in der Türkei sehr ausgeprägt. Und da kann die Nationalmannschaft jetzt natürlich mit Erfolgen dafür sorgen, dass das Land vielleicht mal was zu lächeln hat - nicht zu lachen, aber zu lächeln.
Berisha und Vagnoman in der Nationalmannschaft - Kuntz freut sich mit
Frage: Sie sind auch Kenner der deutschen Fußball-Nationalmannschaft. Hansi Flick hat gestern den Kader bekanntgegeben für die Testspiele der deutschen Mannschaft mit vielen jungen neuen Talenten wie Mergim Berisha vom FC Augsburg zum Beispiel. Würden Sie sagen, das ist genau der richtige Weg für die deutsche Mannschaft, um wieder erfolgreicher zu werden.
Kuntz: Zumindest mal freut es mich. Wir haben Berisha ja damals mehr oder weniger entdeckt. Da hat jeder gesagt, 'wer ist da denn eingeladen worden? Man muss sagen, dass Mergim auch bei der U21-Europameisterschaft, die wir gewonnen haben, ein ganz, ganz wichtiger Teil der Mannschaft war. Er kam aus Salzburg, hat das Anlaufen super gelernt. Da hat man schon gesehen, dass er knipsen kann. Und er hat auch so einen Riecher, wo ein Tor ist . Mit Josha Vagnoman ist es mehr oder weniger dasselbe. Da freut man sich jetzt mit, dass relativ viele ehemalige U21-Spieler in der deutschen Nationalmannschaft aufschlagen. Und natürlich drücke ich die Daumen, dass die Jungs dann die Chance auch nutzen.
Frage: Und er hat er nicht nur mit Salzburg, sondern jetzt auch mit dem FC Augsburg zweimal gegen die Bayern getroffen. Insgesamt schießt er oft auch das wichtige 1:0. Was zeichnet ihn ihrer Meinung nach aus?
Kuntz: Zunächst mal sein taktisches Verhalten in der Defensive. Das ist sicherlich lustig, wenn man das als Erstes über einen Stürmer sagt, aber da ist er extrem gut, wenn man den Gegner pressen will, wenn man das gegen einen tiefstehenden Gegner durchführen möchte. Dann hat er echt Riesenqualität, denn er läuft so an, dass hinter ihm sehr oft einen Deckungsschatten entsteht, also niemand angespielt werden kann. Er hat einen Riecher, einen wunderbaren Fuß und einen sehr guten Kopfball, es ist einfach schön, dass er das jetzt auf Dauer zeigen kann.
"Flick hat diese Chance verdient"
Frage: Mal provokant gefragt: Glauben Sie, dass Hansi Flick überhaupt der Richtige ist, um nach der so so enttäuschenden WM in Katar den deutschen Fußball wieder erfolgreicher zu machen?
Kuntz: Ich bin der Meinung, gerade so so ein Negativerlebnis gibt einem Trainer die Chance, daran zu wachsen und daraus zu lernen. Und ich glaube, diese Chance sollte jeder auch mal haben.
Frage: Vier von sechs deutschen Mannschaften sind jetzt ausgeschieden im Europapokal, nur die Bayern in der Champions League sind noch dabei und Leverkusen in der Europa League. Ist das Ihrer Meinung nach auch ein Ausdruck dafür, dass der deutsche Fußball Probleme hat?
Kuntz: Ist immer so ein bisschen einfach. Beim DFB weiß man ja, dass man etwas ändern muss. Wir haben nicht genug Talente, die hinten dranstehen. Ich habe auch mit U21-Nationaltrainer die Salvo gesprochen, meinem Nachfolger. Er hat auch gesagt, dass die Jungen im Moment unwahrscheinlich wenig Spielzeiten bekommen, dass nicht mehr so herausragende Talente da sind. Der deutsche Fußball kennt schon die Probleme. Ich glaube eher, man sollte darauf achten was ist denn geplant in diesem 'Projekt Zukunft' um den deutschen Fußball im Jugendbereich ein bisschen verändern. Weil, da gibt es sehr gute Vorschläge, einiges wurde umgesetzt. Andere Dinge stehen zur Umsetzung an.