NSU-Prozess


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288. Verhandlungstag, 08.06.2016 Carsten S. und die Frage der Reife

Wie reif war der mutmaßliche NSU-Waffenbeschaffer Carsten S. zur Tatzeit? Dazu wurde ein forensischer Psychiater gehört. Von der Entscheidung des Gerichts wird abhängen, ob beim Angeklagten Jugend- oder Erwachsenenstrafrecht angewendet wird.

Von: Alf Meier

Stand: 08.06.2016 | Archiv

Der Angeklagte Carsten S. am 20.06.2013 im Gerichtssaal des Oberlandesgerichts in München. | Bild: picture-alliance/dpa

Es ging am Vormittag vor allem um die Frage, ob bei Carsten S., der im NSU Prozess wegen Beihilfe zu neun Morden angeklagt ist, Jugend- oder Erwachsenenstrafrecht angewendet werden muss. S. hat gestanden, die Waffe "Ceska" mitbesorgt zu haben, mit der neun der insgesamt zehn NSU-Opfer getötet wurden. Zur Reife des Angeklagten zur Tatzeit wurde heute ein sachverständiger Zeuge gehört. Die Einschätzung ist vor allem für die Höhe der Strafe im Falle einer Verurteilung wichtig.

Der forensische Psychiater Norbert Leygraf von der Universität Duisburg-Essen hatte Carsten S. im März und April 2011 in drei Sitzungen untersucht. Es war nicht das erste Mal, dass der Sachverständige im NSU-Prozess aussagte. Vieles, was er heute berichtete, war schon einmal Thema des Verfahrens. Leygraf zeichnete das Bild eines unsicheren jungen Mannes, der Mitte der 1990er Jahre über einen Bekannten in die rechte Szene in Jena geriet und hier vor allem Selbstbestätigung suchte.

Neonazi fürs Selbstwertgefühl

In der Schule sei Carsten S. nach eigenen Angaben immer einer der Schwächeren gewesen. Unter den jungen Neonazis habe er ein erhebendes Gefühl gehabt, berichtete S. dem Psychiater. Uwe Böhnhardt sei für ihn ein toller Mann gewesen. Der Angeklagte sei homosexuell, habe seine Neigungen aber vor seinen rechten Freunden verbergen müssen, sagte Leygraf. Ihm sei klar gewesen, das Homosexualität nie akzeptiert worden wäre. Carsten S. hätte sich deshalb 2001 entschlossen, aus der rechten Szene auszusteigen.

Vergangenheitsaufarbeitung

Eine eindeutige Einschätzung, ob Jugend- oder Erwachsenenstrafrecht zur Anwendung kommen müsse, sei nach so langer Zeit schwierig, sagte Leygraf. Bei Alltagsaufgaben sei Carsten S. gut entwickelt gewesen. Bindungsfähigkeit und sexuelle Identitätsfindung wären aber noch nicht ausgereift gewesen. Letztlich müsse das Gericht entscheiden. Dass sich Carsten S. aber vor Abschluss seines 20. Lebensjahres aus der rechten Szene zurückgezogen und versucht habe, seine rechte Vergangenheit mit einem Sozialpädagogikstudium aufzuarbeiten, zeige, dass er noch Entwicklungspotenzial gehabt, aber und nicht ausgereift war.


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