NSU-Prozess


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NSU-Prozess: Gerichtssaal-Protokoll 235. Verhandlungstag, 08.10.2015

Heute stellt die Verteidigung des Mitangeklagten Ralf Wohlleben einen Antrag auf Aussetzung des Verfahrens, dem sich die Verteidigung von Beate Zschäpe anschließt. Der Antrag wird begründet mit der angeblich unzureichenden Verteidigung der Hauptangeklagten.

Von: Eva Frisch, Tim Aßmann

Stand: 08.10.2015 | Archiv

NSU Prozess Gerichtsprotokoll | Bild: BR

Unzureichend deswegen, weil Zschäpe mit ihren bisherigen Pflichtverteidigern Wolfgang Heer, Wolfgang Stahl und Anja Sturm nicht ausreichend kommunizieren könne. Auch Zschäpes neuer Pflichtverteidiger Mathias Grasel sei durch seine mangelnde Einarbeitung in den Prozess nur unzureichend geeignet. Diese Umstände würden sich auch auf die Verteidigung Wohllebens auswirken. Das Gericht unterbricht den Prozess und will am nächsten Verhandlungstag seine Entscheidung über den Antrag bekannt geben.

Zeugen:

  • keine

ARD-Reporter über das Geschehen im Gerichtssaal

(Eva Frisch, BR)
9.40 Uhr.
Zschäpe betritt den Gerichtssaal. Im Gespräch mit Grasel. Heute mit nach hinten geflochtenen Haaren und dickem Schal. Kein Wort zu Heer und Sturm.

Heute im Gerichtssaal: die Ehefrau von Wohlleben. Kurze Begrüßung der beiden ohne Küsschen. Das Paar sitzt Händchen haltend nebeneinander.

9.49 Uhr.
Richter Götzl stellt die Anwesenheit fest.

(Tim Aßmann, BR)
RA Wolfram Nahrath (Verteidigung Wohlleben) will Antrag stellen.
Götzl: Worum geht's?
N: Den ich jetzt verlesen werde.
G: Warum?
N: Ist jetzt angezeigt … ist Aussetzungsantrag.
Schließen uns Anträgen der Verteidigung Zschäpe [in Sachen Meral Keskin, der Nebenklägerin, die es offenbar nicht gibt] an. Anträge sollen weiteren prozessualen Antrag vorbereiten, ob Ablehnungsgrund gegeben und ob das Gericht die Nebenklägerin unzulässig und irreparabel zugelassen hat.
Grasel gab zu verstehen, dass er in Verteidigung eingeschränkt ist. Heer wies darauf hin, dass seit Monaten keine Kommunikation mehr stattfindet. Daraus zieht die Wohlleben-Verteidigung die Schlüsse: Anwälte können Zschäpe seit 20. Juli nicht mehr effektiv verteidigen. Grasel verfügt bisher nicht über die Mitschriften der anderen Verteidiger. Er kann von vornherein nicht sachgerecht verteidigen. Daraus folgt, dass Zschäpe spätestens seit 20. Juli nicht mehr ordnungsgemäß verteidigt ist. Es ist nicht erkennbar, dass sich das ändert. Das stellt Revisionsgrund dar, hat Auswirkungen auf Wohlleben, weil nicht ausgeschlossen werden kann, dass sich Zschäpe anders verteidigt und das Wohllebens Lage verbessert hätte.
Daher: Verfahren aussetzen, ordnungsgemäße Verteidigung Zschäpes sicherstellen, Wohlleben-Haftbefehl aussetzen.

RA Stephan Kuhn (Nebenklage-Anwalt der Opfer des Anschlags in der Kölner Keupstraße): Sehe Probleme mit der Antragsbefugnis der Verteidigung von Wohlleben: Keskin ist Keupstraße und Wohlleben ist dazu nicht angeklagt. Verteidigung von Zschäpe beeinflusst die Verteidigung von Wohlleben nicht so, dass Revisionsgründe gegeben sind.

Grasel: Frau Zschäpe würde sich dem Antrag der Verteidigung von Wohlleben gerne anschließen.

Pause bis 10.30 Uhr.

(Tim Aßmann, BR)
Weiter um 10.37 Uhr.
Stellungnahme von Jochen Weingarten (Vertretung Bundesanwaltschaft): Gibt keinen Anspruch auf dienstliche Erklärungen von Mitgliedern des Gerichts.
Aussetzungsantrag: Klar ist jedenfalls: Aus dem Umstand, dass Angeklagter nicht mit Verteidiger spricht, ergibt sich keine nicht ausreichende Verteidigung - auch wenn sie suboptimal sein mag. Zschäpe ist durch Stahl, Heer, Sturm und Grasel adäquat verteidigt. Alle Anträge sind abzulehnen.

(Eva Frisch, BR)
RA Adnan-Menderes Erdal (Nebenklage-Anwalt der Opfer des Anschlags in der Kölner Keupstraße): Verteidigung von Zschäpe hat sich noch nicht dem Wohlleben-Antrag angeschlossen.
Grasel: Ich schließe mich dem Antrag der Verteidigung von Wohlleben an.

(Tim Aßmann, BR)
Götzl zu Heer: Besteht ein Problem, Sitzungs-Niederschriften zu übergeben?
Heer: Es wurden keine übergeben.
Grasel: Mir wurden Informationen auf mehrfache Nachfrage mitgeteilt. Niederschriften habe ich nicht erhalten.
Heer: Selbstverständlich bin ich, kann auch für Sturm und Stahl sprechen, bereit zur Einarbeitung von RA Grasel beizutragen.

(Eva Frisch, BR)
Götzl: Werden Unterlagen übergeben?
Heer: Ich habe mir meine soeben abgegebene Erklärung wohl überlegt.

Sitzung unterbrochen bis 11.00 Uhr.

(Tim Aßmann, BR)
In der Pause: Heer und Grasel stehen einen Meter von Zschäpe entfernt und plaudern, wirken dabei ziemlich gelöst und locker.

Weiter um 11.35 Uhr.
RA Olaf Klemke (Verteidigung Wohlleben): Bundesanwaltschaft führte aus, Zschäpe sei adäquat verteidigt. Grasel erklärte, Informationen nur auf Nachfrage erhalten zu haben. Heer zur Übergabe von Niederschriften: Ich habe mir meine Erklärung sehr gut überlegt.
Es kann keine Rede davon sein, dass Zschäpe durch Heer, Stahl und Sturm adäquat verteidigt ist. Es findet keine Kommunikation statt. Gestern Antrag, vorher nicht übergeben oder abgestimmt. Adäquate Verteidigung wird von der Bundesanwaltschaft unzulässig unterstellt. Ein solches Verhältnis kann sachgerechte Verteidigung nicht gewährleisten, ist ausgeschlossen. Auch Grasel kann sachgerechte Verteidigung nicht gewährleisten, kann bisherige Beweisaufnahme mangels Niederschriften nur lückenhaft würdigen. Es ist nicht damit zu rechnen, dass das Informationsdefizit zu beheben ist. Zschäpe ist spätestens seit 20. Juli nicht mehr ausreichend verteidigt.

(Eva Frisch, BR)
RA Hardy Langer (Nebenklage-Anwalt der Angehörigen des ermordeten Mehmet Turgut): Kein Anspruch auf unkommentierte Abschriften. Ich würde meine Abschriften auch nicht herausgeben. Herr RA Klemke könnte Herrn Grasel doch seine Abschriften geben.
Klemke: Unfug! Ich mache meine Notizen aus der Sicht der Verteidigung von Wohlleben.

(Tim Aßmann, BR)
Klemke: Das hat ja auch nichts mit irgendwelchen Rechtsvorschriften zu tun, es geht um das Informationsdefizit. Meine Mitschriften nicht geeignet. Ich vertrete Wohlleben.

(Eva Frisch, BR)
RA Alexander Hoffmann (Nebenklage-Anwalt der Opfer des Anschlags in der Kölner Keupstraße): Es ist gut, dass Sie darauf hinweisen, dass Sie Herrn Wohlleben verteidigen und nicht Frau Zschäpe. Manchmal hat man einen anderen Eindruck.
Destruktives Verhalten der Angeklagten Zschäpe. Ihre Verweigerung den Anwälten gegenüber war eine Destruktion in Richtung des Prozesses.

Sie hat später auch nicht gesagt, ich möchte Herrn Grasel. Hat ihn dann aber genommen. Weil er mit ihr im Gespräch war.
Heer, Stahl und Sturm haben Prozessaktivität gezeigt. Verteidigung findet statt.

RA Sebastian Scharmer (Nebenklage-Anwalt der Tochter des ermordeten Mehmet Kubasik): Ich gehe davon aus, dass Zschäpe jederzeit mit Heer, Stahl, Sturm sprechen kann. Darauf hat der Senat keinen Einfluss.

(Tim Aßmann, BR)
RA Eberhard Reinecke (Nebenklage-Anwalt der Opfer des Anschlags in der Kölner Keupstraße): Aussetzung unter dem Gesichtspunkt des Opferschutzes inakzeptabel, Zschäpes Belange hier zweitrangig.
Klemke: Frage einer effektiven Verteidigung ist nicht zweitrangig.

(Eva Frisch, BR)
Klemke: Bereits der gestrige Vorgang und der Hinweis von Herrn Grasel beweist das Gegenteil. Nicht Zschäpe ist für die fehlende Kommunikation verantwortlich.
Reinecke: Da wird das Prozessrecht auf den Kopf gestellt.

RA Mehmet Daimagüler (Nebenklage-Anwalt der Angehörigen der ermordeten Ismail Yasar und Abdurrahim Özüdogru): Zschäpe hat mehrfach versucht, ihre ursprüngliche Verteidigung loszuwerden. Sie hat es unkonkret gemacht und hatte damit keinen Erfolg. Wenn sie Erfolg gehabt hätte, hätte Grasel auch niemand zum Einarbeiten gehabt. Der Streit ist aus Sicht meiner Mandantschaft unwürdig. Sie besteht aus Geschwistern eines Mannes, dem mehrfach in den Kopf geschossen wurde. Und aus Kindern eines Mordopfers. Und Frau Zschäpe ist eine mehrfache Mörderin.

(Tim Aßmann, BR)
Daimagüler: Aus Sicht meiner Mandanten jenseits des Juristischen unverfroren von Zschäpe.

(Eva Frisch, BR)
Klemke: Unverfroren ist die Vorwegnahme des Kollegen vor der Beweiswürdigung.
Daimagüler: Nach über 230 Verhandlungstagen ist eine Prognose für den Prozess durchaus möglich.
Klemke: Auch hier gilt die immer noch die Unschuldsvermutung.

(Tim Aßmann, BR)
Erdal: Stahl hat Zschäpe letzte Woche angesprochen, sie hat sich demonstrativ abgewendet. Wie soll sich ein Anwalt da verhalten? Es lag an Zschäpe. Schon von daher muss man das nicht weiter ausführen.
RA Björn Elberling (Nebenklage-Anwalt der Opfer des Anschlags in der Kölner Keupstraße): Grasel hat bisher nicht erklärt, dass er sich nicht einarbeiten könne.
RA Nicole Schneiders (Verteidigung Wohlleben): Dass Zschäpe sich unseren Anträgen anschließt, macht deutlich, dass es so ist.

(Eva Frisch, BR)
Götzl: Verhandlung wird bis nächsten Dienstag unterbrochen.

Hinweis

Diese Texte sind eine Auswahl der Mitschriften der Reporter der ARD und des BR während der zentralen Verhandlungstage im sogenannten "NSU-Prozess", eines beispiellosen Verfahrens der deutschen Rechtsgeschichte. Wir dokumentieren diesen "Originalton", weil es in der deutschen Praxis des Strafprozessrechts, selbst bei derartig wichtigen Verfahren, kein offizielles und umfassendes Gerichtsprotokoll gibt. Wir erfüllen damit unsere Informationspflicht, um allen, die keinen der begehrten Sitzplätze im Gerichtssaal erhalten haben, einen - durchaus auch subjektiven - Eindruck der Prozessereignisse zu vermitteln. Die Zusammenfassungen der sogenannten "Saalinfos" unserer Reporter sind redaktionell bearbeitet, zum Teil gekürzt. Es wird kein Anspruch auf Vollständigkeit erhoben und es kann natürlich auch keine Gewähr für die Richtigkeit jedes einzelnen Wortes gegeben werden. Die Redaktion distanziert sich ausdrücklich von den Inhalten der Aussagen der Prozessteilnehmer.


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