"Am 9. Februar bin ich zu Freunden nach London gefahren und eigentlich sollte ich dort nur drei Wochen bleiben", erzählt Marta Vasyuta. Die 21-Jährige kommt aus der Ukraine – und ihr Trip nach London dauert nicht drei Wochen, sondern drei Monate. Denn am 24. Februar 2022 überfällt Russlands Präsident Putin ihr Land, und Marta kann erst einmal nicht zurück zu ihrer Familie. "Seitdem ist nichts mehr, wie es war", erzählt Marta heute. Nie hätte die Studentin damals gedacht, dass es wirklich zum Krieg kommt.
Aus Influencern werden "Kriegsfluencer"
Noch in der Nacht, in der Russland die Ukraine angreift, lädt Marta ein Video auf TikTok hoch. Wie viele andere junge Leute in ihrem Alter nutzt die junge Frau die Kurzvideo-Plattform, um sich beim Tanzen aufzunehmen oder zu ihren Lieblingssongs die Lippen zu bewegen. Eigentlich steht TikTok für kurzweilige und seichte Unterhaltung. Doch nun verwandelt sich die Plattform für Marta in ein digitales Megaphon. Ein digitales Megaphon, mit dem sie die Welt über die Situation in ihrem Heimatland aufklären kann.
Marta zeigt die Bomben, die auf ukrainische Städte fallen; das Leid der Zivilbevölkerung; aber auch den Widerstandgeist der Ukrainerinnen und Ukrainer. Über Nacht werden Martas Videos millionenfach angesehen. Die junge Studentin wird, wenn man so will, zur "Kriegsfluencerin".
Marta: "Es geht um mein Zuhause"
"Ich habe mit TikTok angefangen, um den Rest von Europa zu erreichen und dem Ausland mehr über den Krieg in meinem Land zu erzählen", sagt Marta heute. Vielen Leute sei gar nicht klar gewesen, dass in der Ukraine seit acht Jahren Krieg herrscht. Manche wollen auch einfach nur sehen, was Marta macht und wie es ihr geht. "Ich bekomme viel Unterstützung, aber natürlich gibt es auch viele Hater, die nicht verstehen, dass es hier um mein Land geht und um mein Zuhause."
Die junge Ukrainerin glaubt, dass soziale Medien und Influencer in dieser Situation einen wichtigen Beitrag leisten. "Wir schweigen nicht", sagt Marta. "Und wenn wir nicht über den Krieg sprechen, wer tut es dann? Sonst hätten wir irgendwann wieder einen eingefrorenen Konflikt und das wollen wir nicht."
Bilder des Krieges in unserer Hosentasche
Nicht nur Marta informiert über den Krieg gegen ihr Land. Viele ukrainische Influencer nutzen ihre Reichweite, um der Welt zu zeigen, was in der Ukraine passiert - und TikTok ist dabei eine der wichtigsten Plattformen. Schon ist die Rede davon, der Ukraine-Krieg sei der erste "TikTok-Krieg". So wie der spanische Bürgerkrieg der erste Krieg der professionellen Kriegsfotografie war, der Zweite Weltkrieg der erste "Radio-Krieg" oder Vietnam der erst "TV-Krieg".
Die US-amerikanische Schriftstellerin Susan Sontag schrieb vor zwanzig Jahren, dass Kriege Teil der heimischen TV-Unterhaltung geworden seien. Heute sind die Bildschirme noch kleiner geworden und wir tragen bewegte Kriegsbilder in unserer Hosentasche herum. Wir werden Kriegskonsumenten. Und in der Ukraine werden die Opfer des Krieges zugleich zu Kriegsreportern.
Das hat Folgen.
Soziale Medien emotionalisieren und machen empathiefähig
"Dieser Krieg wird sehr stark bestimmt von den Bildern, die uns über die sozialen Medien erreichen. Bilder, die eine ganz große Nähe herstellen. Bilder, die uns auch empathiefähig machen und emotionalisieren", sagt der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen von der Universität Tübingen. Soziale Medien, Twitter, Facebook, Instagram oder eben auch TikTiok seien Räume, in denen Menschen im Moment höchst relevante Informationen über die Schrecken dieses Krieges austauschen und die uns berühren, auch wenn wir nicht unmittelbar vor Ort sind.
Den Krieg um die öffentliche Meinung hat Putin bisher verloren
Katja Goncharova ist Journalistin aus der Ukraine und arbeitet beim WDR. Dort betreut sie das Programm für Ukrainer, die wie sie vor dem Krieg fliehen mussten. Das Internet ist für die ukrainische Journalistin einerseits ein Recherche - und Arbeitstool. Aber das Netz hilft ihr ihr auch dabei, Kontakt zu halten zu Freunden und Familie. Jeden Tag spricht sie mit Hilfe des Messengers Signal mit ihrem Lebensgefährten, der im Krieg kämpft.
Sowohl die TikTokerin Marta als auch die Journalistin Katia benutzen das Netz, um sich selbst zu informieren - und andere. Viele Ukrainer tun das und nehmen so auch Einfluss auf die Meinung im Westen. Noch ist unklar, ob Putin den Krieg mit Panzern und Raketen gewinnen kann. Klar ist hingegen: Den Krieg um die Meinung im Netz hat er schon verloren - vorerst zumindest und zumindest in der westlichen Welt.
Und das hat nicht nur mit der erdrückenden Macht des Faktischen zu tun, also damit, dass Russland in diesem Konflikt eindeutig der Aggressor ist, sondern auch damit, dass die ukrainische Politik und Zivilgesellschaft schon früh den Umgang mit dem Netz gelernt hat. "Das begann schon 2013 bei der Revolution auf dem Maidan", erzählt Katia Goncharova. Damals hätten Journalisten, die mit der offiziellen Politik nicht einverstanden waren, angefangen zu streamen. Wichtige Neuigkeiten der Regierung seien zudem immer über Facebook oder Twitter bekannt gegeben worden.
Krieg in Echtzeit
Heute tragen wir nicht nur Bilder des Krieges in unserer Hosentasche herum, sondern auch eine schier unerschöpfliche Quelle an Informationen. Wir können fast in Echtzeit Frontverläufe auf Twitter einsehen. Wir können in Sekunden den Unterschied zwischen eine Stinger-Rakete und einer Javelin-Rakete googeln. Wir können mit einem Fingertapsen sehen, wo welche Waffen gerade wie eingesetzt werden. Zudem laden Soldaten Handyvideos hoch. Manchmal hat man dadurch den Eindruck, dem Krieg fast schon in Echtzeit beizuwohnen.
Twitter & Co. filtern die Realität
Doch das Gefühl der Authentizität kann trügen "Ich habe jetzt Tausende zerbombte russische Panzer gesehen. Ich habe noch nicht einen einzigen ukrainischen zerbombten Panzer gesehen. Ich weiß, dass es zerbombte ukrainische Panzer gibt, aber die kriege ich nicht zu sehen", erzählt der Netztheoretiker und Buchautor Michael Seemann. Man müsse sich immer bewusst sein, dass die Realität in den sozialen Medien eine gefilterte Realität sei und beispielsweise die Analysen von Medien und Experten in das eigene Weltbild mit einfließen lassen.
Soziale Medien verzerren also die Realität. Was man auf Twitter, Facebook oder Instagram zu sehen bekommt, hängt vor allem davon ab, welchen Quellen man folgt und davon, was die Algorithmen durchlassen. Was in den sozialen Medien passiert, ist zwar die Realität. Aber es ist keine repräsentative Realität. Und doch können das Internet und die Sozialen Medien dabei helfen, sich in Kriegszeiten der Realität anzunähern oder Kriegsverbrechen zu dokumentieren und aufzuklären.
Vor allem aber macht es den Ukrainern Mut. Es hilft ihnen, sich zu vernetzen. Und übrigens auch den Russen, die im Exil leben. Nach all den Jahren, in denen das Internet vor allem als Radikalisierungsbeschleuniger von sich reden gemacht hat, zeigt es sich nun von einer anderen Seite – und das ist eine gute Nachricht.
Mehr über die Rolle, die das Internet im Ukraine-Krieg spielt, hören Sie in der aktuellen Folge unseres Tech-Podcasts "Umbruch". Zum Abonnieren, hier entlang!
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